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Die Narbe

Ich habe eine Narbe. Eine Narbe, die sich seit einem Sommer im ungeliebten Dorf habe. Sie erinnerte mich an das vielleicht fünfjährige Kind, das fiel auf dem Hof. Eigentlich nicht schlimm, ganz normal, wie Kinder eben fallen. Wie ich fiel und weshalb meine Knie oft, eigentlich wohl immer aufgeschürft waren, das weiß ich nicht. Es war normal.

Doch dieses eine Mal fiel ich anders. Nichts schürfte auf dem sandigen Boden. War ich doch auf die Betonplatte gefallen? Ich hatte eine tiefe, lange Kluft über meinem Knie, gerade, sauber, wie mit einem Messer gezogen. Weinte ich? Ich weiß es nicht mehr. Am unteren Ende der Kluft rann Blut hervor. Sauber, geordnet, dunkelrot. Ich wunderte mich. Irgendwann saß ich im Bad der Tante in der Wohnung, die ich nicht mochte, die kalt war an Raum und Menschen. Die Tante schimpfte mit mir. Ich solle mich nicht haben. Weinte ich doch? Ich betrachtete mein Bein. Ich saß auf der Toilette und hatte eine Kluft in meinem Knie, die Kluft brach auf, tiefes Kinderfleisch über gebeugtem Knie. War das mein Kochen? Blaulila schimmerte etwas darunter. Ich war interessiert. Pflaster habe sie nicht. Der Tantes Stimme holte mich zurück. Eigentlich wollte ich nur weg. Ich müsse jetzt warten. Sie wollte mich schnell wieder loswerden. Nicht mehr spielen.

Irgendwann kam meine Großmutter von der Schicht, mich abzuholen. Es müssen Schulferien gewesen sein, wenn die Tante zu Hause und nicht in der Schule war. Die Großmutter ging mit mir nach Haus, sah mein Knie an, murmelte schimpfend vor sich nicht und verband es. Jetzt ist es zu spät, tröstete sie mich. Die Tante hätte mit mir Dorfschwester gesollt? Großmutter verband das Knie. Auch kein Pflaster? Ich denke, es heilte schnell.

Es blieb eine Narbe. Eine dicke, unübersehbare Narbe, die mich immer an diesen Sommer im ungeliebten Dorf erinnerte. Ich wurde nicht genäht oder irgendwas. Damals heilten die Körper zusammen, wie es eben kam. Erstrecht bei Kindern, die man nicht mochte. Die Narbe wurde ein Teil von mir. Ich bin uneitel. Ich versteckte sie nicht. Wurde angesprochen. Erzählte die Geschichte nicht. Belanglosigkeiten. Die ist verbunden mit der Kälte und dem Desinteresse der Tante. Ich taugte nur zum Vergleich mit dem eigenen Kind, das zwar auch ungeliebt, aber dafür in allem besser war, als ich merkwürdiges Stadtkind, das las und nicht mit Puppen spielte, auf Bäume kletterte und gern allein war. Das Kind, das zu viel fühlte, wo Gefühl nicht gewünscht war. Die Glut im Kühlschrank ist nie erwünscht.

Dann und wann höre ich heute noch Geschichten aus dem Dorf, das ich seit dem Tod meiner Großmutter nicht mehr betrat, nie mehr betreten werde.

In den letzten Jahren fiel ich wieder, Knie wie die eines Kindes. Beim letzten Mal sah ich, dass die Narbe kleiner wurde. Sie wurde überlagert mit neuen feineren Narben, abgeschürften von neuen Geschichten. Vor ein paar Tagen wieder. Die Knie sind wieder die des sommerlichen Kindes, wenn es zurückkam von den Abenteuern in der Nachbarschaft, von Höhlen in Gebüschen, vom Klettern auf und Sitzen in Bäumen. Und auch vom Wegrennen vor den Kindern, die das andere Kind nicht mochten und es unterwerfen wollten. Sie schafften es nicht. Dick liegt heute der Schorf auf meinen Knien und ich weiß, wenn er gegangen ist, ist auch ein Stück dieser einen Narbe weg und ein Stück dieser Geschichte. Wir heilen. Es bleiben Narben. So sagt man, so sieht man.

Doch manchmal heilen wir besser, wenn diese Narben übernarbt werden und in neuen Narben verschwinden, kleiner werden und so niemand mehr, auch man selbst nicht in dieses vergangene Innere schauen kann.


Foto: 365_090 von Canned Muffins, CC BY 2.0


2 Kommentare

  1. Schöne Erzählung, danke!
    Ich finds ja auch interessant, dass Pockenimpfnarben auf einmal nicht mehr zu sehen sind – jahrelang nicht angeschaut, erst wegen Corona und der Geschichte um die Pockenimpfung damals und den Widerstand u.a. in Tirol. Und nicht nur bei mir so, auch bei anderen.
    Rätselhaft!?

    • Das ist interessant. Ich hatte nie eine – aber das lag wohl am späteren Impfstoff, wie ich irgendwann erfuhr.

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