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Gedanken, nicht nur zum 8. Mai

„Ihr sagt Befreiung?“ Fragte mich mein Lieblingsniederländer neulich. Hmm, ja, stimmt, eigentlich seltsam.

Seit einigen Jahren mache ich täglich eine Presseschau zum Nationalsozialismus im weitesten Sinne. Ich habe so, denke ich, einen ziemlich guten Überblick, wie was wo geschrieben wird. Das ist mein Job. Seit gut zehn Jahren, um genau zu sein, und jedes Jahr im April und Mai mag ich diese Aufgabe nicht, denn der Ton in den Artikeln ändert sich – nicht zum Positiven. Seit Jahren denke ich daran, darüber zu schreiben. Dieses Jahr nun also kann ich nicht mehr still sein.

Befreiung? Ich selbst bin in einem Land aufgewachsen, wo man vom großen sowjetischen Brudervolk befreit wurde, natürlich. Bei uns lebten ja keine Täterinnen und Täter, so sagte man. Fragen durften nicht gestellt werden: „Und wurden denn die anderen Menschen auch befreit, die, die im anderen Teil Deutschlands?“ Die Antwort blieb man dem Kind, das ich war, in der Schule schuldig. Darüber sprechen, dass einige Gebiete auch in der späteren DDR nun in der Tat nicht vom „großen Bruder“ befreit wurden – ach lassen wir das. Ich wollte doch schreiben, was ich heute sehe.

Selbstmitleid ist wohl das Wort, das ich am ehesten dem geben würde, was ich da so in den Blättern im April lese. Selbstmitleid, weil Bomben fiel, Selbstmitleid weil Menschen fielen – deutsche Menschen natürlich, die der Rassenideologie entsprachen. Die anderen hatte man schon weg geschafft, hatte sie töten lassen uns vergessen, hatte sie versklavt „Wir hatten ja keine Wahl, unsere Männer waren ja schließlich im Krieg.“ In wessen Krieg? Sehr selten und auffallend immer weniger mit den Jahren lese ich Worte der Demut oder Dankbarkeit für die, die ihr Leben ließen, um dem Nationalsozialismus Einhalt zu gebieten, den Menschen, die in Millionen starben, um ein Volk zu „befreien“, das selbst nur eines wollte: die Herrschaft über andere. Dieses Herrenmenschendenken, die Erhebung über die, die nicht deutsch, nicht deutsch genug seien. Um die jeweiligen Jahrestage von Bombardierungen ist das Selbstmitleid besonders groß: Wir haben doch nichts getan. Wir wurden unschuldig bombardiert. Hier war doch keine Rüstung/Lager/Kaserne. Wirklich? Unschuldig? Ernsthaft? Ist nicht genau das das Problem gewesen, die Schuld: nichts getan zu haben. Natürlich ist es traumatisierend, wenn eine sonst doch abseits des Krieges existierende Ortschaft, in der alles schien wie vor dem Krieg, plötzlich selbst Zerstörung erfährt. Das nachdem ihre Kinder in anderen Ländern Unvorstellbares anrichteten. Doch kein Wort davon: nie. Wie aus heiterem Himmel fielen die Bomben auf die so friedlichen Deutschen Lande. Glauben Sie das wirklich? Ernsthaft?

Wo sind sie, die deutschen Zeitzeugen, die sagen, wir haben es nicht anders verdient. Selten, zu selten hört man sie noch. Das andere das passt besser, ist mehr gewünscht vermutlich. Man will sich ja mit den Lesenden/Hörenden/Sehenden gut stellen. Anders kann ich es mir nicht erklären. Die Lokalblätter möchten sich gut stellen, sie brauchen die Leser. Irgendwie kann ich es verstehen und doch ist es unverantwortlich. Der Spagat zwischen individuellem Leid und Trauer und der Einsicht von Schuld, er gelingt, mit seltenen Ausnahmen, nicht. Es gibt nur ein entweder oder – man hat es ja spätestens vom „Führer“ so gelernt. Hat man noch jahrelang gejubelt, die Arme straff gestreckt, so war man jetzt schon immer dagegen. Ein alliierter Soldat meine ich sagte sinngemäß: „Erst streckten sie ihre Arme zum Führer, dann nach dem Essen von uns.“
Ach lasst mich doch in Ruhe mit dieser Jammerei. Immer sind es die anderen, besonders die Rote Armee, besonders die Russen. Es passte so schön ins Rassenverständnis und noch soviel ist übriggeblieben bis heute. Warum habt Ihr nie gefragt, was Deutsche im Namen Deutschlands anrichteten in Polen, der Sowjetunion in Griechenland, Frankreich, wo auch immer. Es waren Deutsche die zu Eltern, Großeltern und Urgroßeltern des Großteils der heutigen Bevölkerung wurden. „Wir haben es nicht anders verdient.“ war ein Satz, den ich in meiner Kindheit oft hörte, wenn die Ersatzoma von früher erzählte. „Das ist nicht mehr meine Heimat, was soll ich da, wir haben es nicht anders verdient.“ Wenn ich fragte, warum sie nach dem Mauerfall nicht doch wieder ins ehemalige Ostpreußen fuhr in das Land der schönen Geschichten, des geliebten Dialekts, der scheinbar unendlichen Weite. Sie ist nie wieder zurückgefahren. Sie hat nie „Entschädigung“ beantragt: !Warum, wir haben es nicht anders verdient. Das ist unsere gerechte Strafe.“ Sie war nicht unglücklich, wenn sie das sagte, nie bitter. Sie hat es akzeptiert als Gerechtigkeit. Sie hat nie nichts gesehen. Hat von den Menschen erzählt, die die Straße entlang getrieben wurden in Lumpen mit schweren Holzschuhen. Ich bin dankbar für diesen Menschen, der mir mit einer Selbstverständlichkeit mehr vermittelt hat, wie es die Schule in ihrer Propaganda nie schaffen konnte.

Und heute ohne diesen Menschen, der schon lange begraben ist? Ich sehe Selbstmitleid. Immer wieder Selbstmitleid. Warum? Deutschland hat den Krieg begonnen. Deutschland wollte die Welt beherrschen. Deutschland hat Millionen Menschen ermordet und zu Sklaven gemacht. Deutschland war der Täter, nicht die Sowjetunion, nicht Großbritannien, nicht Polen, die USA oder Frankreich. Deutschland hat die Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents zu Sklaven gemacht, sie werden auch heute zu oft ausgeblendet. Es waren nicht „nur“ KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, es waren Menschen, die aus ihrer Heimat deportiert wurden, von der Straße weg, manchmal ganze Orte, um für Deutschland und seine Bürger zu arbeiten. Über 12 Millionen Menschen waren Sklaven für das Volk, das sich heute bemitleidet, dass man Bomben auf es warf und die schönen Städte zerstörte. Was ist mit Coventry, Warschau, Rotterdam? Was ist mit all den dem Erdboden gleichgemachten Orten in Europa? Was ist mit den Morden verübt in Deutschlands Namen. Ihr tut so, als hättet Ihr denen, die das taten, freundlich die Hand geschüttelt, getätschelt und gesagt: „Es ist schon alles ok so.“ Ich bin es so unendlich leid. Wofür bemitleidet Ihr Euch? Für den Frieden, in dem Ihr leben könnt? Dafür, dass Eure Häuser ein Dach haben, dass Ihr zu essen, zu trinken und medizinische Versorgung habt, dass Ihr Bildung bekommt, kostenlos? Wofür verdammt noch mal?

Besucht einen Friedhof, fahrt durch Frankreich, sehr die Meere der Gräber zweier sinnloser Kriege am Straßenrand, fahrt in die Normandie an die Strände von Blut getränkt neben Feldern von Kreuzen und Sternen für die, die für Euch ihr Leben gaben, fahrt in Ostdeutschland zu den Orten an denen sowjetischen Gefallene ruhen und seid dankbar, seit demütig und immer wieder dankbar, dass es DIESE Menschen gab, die starben, damit Ihr leben könnt und heute besser den je leben könnt.

75 Jahre Frieden, meine Güte, was für ein Geschenk!

Falls Ihr das nicht könnt, fragt wenigstens, was wir heute besser machen können: Die unschuldigsten, die Kinder des Krieges damals, werden heute gesehen und gehört, doch niemand fragt, was mit den Kindern heute in den Lagern von Lesbos, Chios und Samos. Warum schreit Ihr nicht aus Leibeskräften, dass man wenigstens sie retten soll? Ah stimmt, Ihr seid ja mit Euch selbst beschäftigt. Das sind ja die anderen, keine Deutschen.

Ich bin es so leid, ich mag keine Zeitungen mehr lesen, ich mag es nicht hören das Gejammere über Plünderungen am Kriegsende, das Gejammere, das in schöner Tradition nur auf „die Fremden“, die ehemaligen dann befreiten Zwangsarbeitenden zeigt. Es passt so schön ins Bild. Die mehrheitlichen Plünderungen von Deutschen gab es natürlich nicht in der Betrachtung. Ach ja, Tradition bis heute. Deutsch ist, was „der Deutsche“ bestimmt. Der Pass ist egal.

„Ihr sagt Befreiung?“, fragt mich mein Freund und ich überlege. Befreit wurden doch wirklich nur die, die unterdrückt waren. An den Straßen standen die, die endlich frei waren, während die Deutschen versteckt in ihren Häusern lagen, bis sie glaubten, sie wären sicher. Gewunken haben die, deren Leben noch ein paar Stunden zuvor für Deutschland keinen Wert hatte: Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeiter, Juden, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und die 0,1% Widerstandskämpfer.

Haben nun deutsche Familien, die nicht verfolgt wurden, Leid erfahren? Natürlich haben sie das. Der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust der Heimat ist Leid, individuelles Leid. Das allerdings über das zu erheben, was Deutschland der Welt an Leid und Schmerz und Tod angefügt hat, ist erbärmlich und ein klares Zeichen dafür, dass nichts gelernt wurde. Selbstmitleid ob des Versailler Vertrages … Die Deutschen sind bekannt für vieles, Selbstmitleid sollte in den Kanon aufgenommen werden, um das Bild vollständig zu machen. Wir sind nie zufrieden und immer, so scheint es, sind die anderen Schuld, vor allem die, die wir unterdrückten.

Gäbe es dieses Selbstmitleid, wenn Deutschland nicht besiegt worden wäre? Seid Ihr, sind wir schuldig? Nicht für die Taten der Ahnen, natürlich nicht, was für eine Frage. Doch wir sind heute schuldig, wenn wir wegsehen von den Geflüchteten der heutigen Kriege, wenn wir nur 47 Kinder aufnehmen, obwohl es viel mehr sein können, mehr sein müssen. Kinder, die wir, so sie Deutsche im letzten Krieg waren, so viel Mitgefühl entgegenbringen. Das Mitgefühl ist nicht da, kommen die Kinder aus Syrien, Afghanistan, dem afrikanischen Kontinent. Wir sind schuldig, Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen, sie in menschenunwürdigen Umständen in Lagern einzusperren, obwohl wir die Möglichkeiten hätten, es anders zu machen. Wir können nicht die Welt retten, aber Menschen retten, das könnten wir. Es wäre unsere Pflicht, wie es aller Menschen Pflicht ist. Wir haben das Privileg, seit 75 Jahren in Frieden und meist in großem Wohlstand zu leben, dieses Privileg ist uns geschenkt worden mit dem Leben Millionen toter Menschen. Wir haben die Pflicht, diesem Privileg gerecht zu werden und es zu teilen.


Foto: Omaha Beach, 2017, Ralf Steeg

5 Kommentare

  1. jim jim

    Aus ganzem Herzen – großartig!

  2. Starke, laute Worte in einem Land, in dem Ruhe noch immer erste Bürgerpflicht ist. Ich selbst vermag mich nicht so kantig zu positionieren, irgendwas lässt mich hier zögern. Kein Selbstmitleid. Eine unklare Unsicherheit vielleicht. Umso wichtiger für mich, solche Positionen zu lesen. Danke.

    • Nun, es fiel auch mir nicht leicht, seit Jahren kaue ich daran herum: soll ich, soll ich nicht. Jetzt musste es raus.

      • Interessant, was alles Mut erfordert. Denkt man manchmal gar nicht drüber nach. Gut gemacht, auf jeden Fall!

  3. Kai Kai

    Auf jedenfall richtig und kantig.

    Nicht zum entschuldigen aber zum erklären. Wenn jemand in den Krieg zieht und fällt aus der Familie, dann sieht man nicht für wen, für welches System, für was; – man sieht nur den eigenen Verlust, das eigene Leid, das was man selbst erfährt. Dahinter verschwindet alles, Logik, Gerechtigkeit, Vernunft.

    Aber, der Artikel ist Klasse und gerade jetzt wo wieder so viel Gewese um das Heldentum der Wehrmacht und die unerklärlichen Kriegsverbrechen der Aliierten gemacht wird muss mal ganz deutlich gesagt werden: Sei dankbar, dass nicht geerntet wurde was man gesäht hat!

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