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Odessa – eine Erinnerung, die nicht meine ist

Wir waren keine Freunde, nur Kolleginnen. Wir sprachen nicht viel, doch im Laufe der Jahre erzählt man sich Dinge in langen Schichten im Museum, wenn keine Gäste kommen. Ich weiß nicht, wann ich sie das letzte Mal sah. Es muss 10 oder 15 Jahre her sein und doch jetzt denke ich wieder an sie.

Ich wusste, dass sie ein Baby war, als ihre Eltern mit Ihr aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Es war nicht relevant für sie. Sie hatte keine Erinnerungen und die ihrer Eltern waren keine guten. Sie sollte es besser haben. Sollte studieren können, nicht diskriminiert werden, weil sie Jüdin war. Deshalb kamen sie, verließen ihr Zuhause, um in einem anderen Land ein neues Leben zu beginnen.

Vermutlich war es wieder am Ende einer Schicht in Museum, wenn kaum noch Gäste da sind, so dass man doch ein paar Worte wechselt, um die Zeit herumzubringen, erzählte sie von einer Reise, eine Reise mit ihrer Mutter in das, was diese trotz allem Heimat nannte: Odessa. Sie war nicht sonderlich aufgeregt davor, eher genervt. Das Reisen in die Ukraine war damals nicht unbedingt ein Vergnügen so schien es. Dort Menschen treffen, die sie nicht kannte, Freunde der Mutter, entfernte Verwandte, die in einer anderen Welt leben. Neugierig war sie schon irgendwie auf das, was dort sei und auf das, nachdem die Mutter doch Sehnsucht verspürte. Doch begeistert war sie wirklich nicht.

Sie war es, als sie zurückkehrte. Sie hatte in Odessa eine Freundlichkeit erfahren, mit der sie nicht rechnete und die sie nicht kannte, nicht aus Deutschland, nicht aus Israel, wo sie kurz lebte. In Odessa wurde sie aufgenommen, als wäre sie nie weg gewesen, als gehöre sie dazu. Vielleicht war das das Eindrücklichste: das Gefühl, dazu zu gehören. Auch ihre Mutter schien plötzlich so lebendig, so fröhlich. Ihre Schwere schien verschwunden. Sie erzählte von den Menschen, die zwar wenig Geld hatten dafür um so mehr Herz. Sie erzählte von Tischen voller Gerichten, die sie nur aus den Erzählungen der Eltern kannte. Von der Stadt, die nicht so perfekt poliert war, von der Atmosphäre, vom Leben. Ich meine, sie leuchtete etwas, als sie es erzählte. Ob sie dort einmal leben wolle, fragte ich noch. Sie könnte es sich vorstellen, vielleicht irgendwann. Doch erst einmal das Studium und dann sehen wir weiter.

Ich weiß nicht, ob sie noch einmal hinfuhr. Ich weiß nicht, ob sie weiter Kontakt zu den Menschen dort hatte. Eigentlich weiß ich gar nichts mehr von ihr. Nur, dass ich jetzt wieder an sie denken musste, als die russischen Panzer in Odessa auffuhren und die Soldaten Selfies machten in einem Land, das nicht ihres war. Ich muss an sie denken, sehe ich die Züge voller Mütter und Kinder, die das Land verlassen und frage mich, was wohl aus den Menschen wurde, denen sie damals begegnete. Was geblieben ist, ist diese Geschichte, diese Erinnerung an Odessa, die sie teilte, an die ich nun denken muss und sie erzählte, damit diese Geschichten nicht verloren gehen.


Foto: Bicycle Fence Odessa by Oлег Pеутов.

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