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Was aus uns wurde

Es war eng im Auto, das Auto, das uns ans andere Ende des Landes brachte. Das Wetter war grau, wie Deutschland weg von den Bergen im Winter ist. Wir waren zu fünft. Fünf junge Menschen auf dem Weg zu einem Wochenende von Jung und Jüdisch. Wir, das waren A., R., M., S. und ich. Lange ist es her, sehr lange und lange habe ich nicht mehr an diese Fahrt und dieses Treffen gedacht. Nicht daran gedacht, was aus uns wurde. Freunde auf Zeit. Manche blieben länger in Kontakt miteinander als andere. Soziale Medien ließen uns, so wir wollten, die Leben der anderen verfolgen. So überhaupt sah auch ich, was aus uns wurde.

Wir wurden erwachsen, so nennt man es wohl. Wir fanden Partner*innen, fanden unsere Berufung, wechselten Jobs, Städte, Länder. Aus uns wurden Theater- und Museumsmenschen, Psychologen, Bürgerrechtsanwälte, Eltern, Familien und – Du.

Du warst das Küken unter uns. Ich weiß nicht mehr, ob Du überhaupt schon 18 warst. Dein Elternhaus hattest Du schon als Teenager verlassen, um Deiner Liebe nach Berlin zu folgen. Deren Eltern nahmen Dich auf und Dein Leben spielte ab da in Berlin. Du machtest Witze über die Waldorfschule, auf die Du gingst. Tanztest uns in wahrsten Sinne Deinen Namen vor an den Autobahnparkplätzen. Irgendwo habe ich noch ein schlechtes Handyvideo davon. Extrovertiert, das warst Du. Mit dem Mädchen, das Dich nach Berlin brachte, warst Du nicht mehr zusammen. Gerade hattest Du eine Filmrolle gespielt und warst aufgeregt, in Aussicht auf eine große Karriere als Schauspieler. Mit einem Start wie diesem kann es nur bergauf gehen mit der Karriere – oder nicht. Natürlich würden wir alle den Film sehen. Ehrensache. Du warst glücklich und stolz und das solltest Du auch sein. In einem Film gesehen habe ich Dich nie wieder. Geachtet habe ich nicht darauf. Du warst so jung, so voller Träume. Ein hübscher Junge, ein neues Gesicht vielleicht für das deutsche Fernsehen.

Warum Du Jude werden wolltest? Wir fragten nicht. Warum auch? Es ist jedermanns eigene Entscheidung. Ich erinnere mich daran, wie Du strahltest, als Dein Beschneidungstermin feststand. Du erzähltest etwas von der Schönheit beschnittener Schwänze. Überhaupt waren Schwänze etwas, was Dich damals sehr interessierte. Nach unserer Reise sah ich Dich noch ein Mal, ganz kurz. Du warst von Charlottenburg nach Prenzlauer Berg gezogen. Unsere Leben waren zu verschieden. Was verband uns? Irgendwann sah ich ein Bild von Dir auf einem Balkon, im Hintergrund das Meer. Du schriebst auf Hebräisch: Gerade vom Ulpan zurück. Du warst also wirklich Jude geworden, hast Alija gemacht und lebtest am Strand von Tel Aviv. Ulpan und Fitnessstudio, das schien Dein Leben zu sein und Reisen, immer wieder Reisen in die exotischsten Länder von denen man nie viel sah, dafür einen sorgfältig definierten Körper, an dem jeder Muskel, jede Sehne dort saß, wo sie hingehörte. Dein blondes Haar sorgfältig gestylt, die blauen Augen strahlten. Du warst ein Glückspilz, ein Sonntagskind und aus dem Jungen wurde langsam ein Mann. Irgendwann stolz ein Bild in Uniform mit MG. Du wurdest, natürlich, Soldat und liebtest es. Aber ein Foto mit Gewehr? Was wurde aus dem Jungen, der die Gewalt verabscheute? Du schriebst davon, wie sehr Dir das Schießen Spaß machte. Es fühlte sich seltsam an, das zu lesen. Ich weiß noch heute, wie es mich irritierte, aber natürlich würdest Du dienen, Du hast Dich für dieses Land entschieden. Das Land, in dem die Armee und seine Soldat*innen überlebenswichtig sind.

Ich schaute nur noch selten auf die Seite, auf der Du Dein Leben präsentiertest. Fitnessstudio, Fotos in Badehose, Sonnenschein, Uniform. Du hattest Dein Leben gefunden. Einer von uns fünfen war wieder heim in die USA  gegangen, wurde Anwalt. Er hatte geheiratet, Kinder bekommen, ein aktiver Demokrat. Man laß mehr von ihm, seit Trump an der Macht war. Als der „Muslimban“ kam, verteidigte er als Anwalt Betroffene, engagierte sich. Alles war so selbstverständlich, R. schrieb Stücke, machte Theater mit Kindern, S. half den Menschen, wenn sie das Leben nicht mehr allein bewältigten und ich, nun, ich verließ das Land, kehrte zurück und kämpfte mich irgendwie durch.

Dann und wann sehe ich in den Sozialen Medien, was wir tun, dann und wann kommt eine E-Mail, erzählt von neuen Geburten, Heiraten und dem Leben. So sah ich vor ein paar Tagen das Bild von Dir, das neueste und dachte zunächst, es ist ein Witz. Seit Jahren sah ich keine Bilder mehr von Dir. Ich habe nicht danach gesucht. Nicht mehr an Dich gedacht. Was machst Du derzeit in Deinem Leben? Ich schaue nach. Noch immer glaubend, hoffend, es ist Satire, was ich gerade sah. Du besuchst den Bundestag, Du postest stolz Bilder mit einer Frontfrau der AfD, Du dankst einer rechten Zeitung für die Möglichkeit dazu.

In meinem Kopf rattert es:

„Die AfD lehnt daher die Beschneidung jedes männlichen Kindes als verfassungs- bzw. rechtswidrig ab und verlangt, eine Beschneidung von Kindern für rechtswidrig und strafbar zu erklären“

Landtagswahlprogram der AfD Bayern, 2018

und

„Die AfD lehnt auch das Schächten ab “

ebd.

Sprichst Du darüber mit Deinen neuen Freunden? In den Kommentaren lese ich, dass man Dich fragt, was mit Dir los sei. Du faselst was von Israel und die AfD sei die einzige Partei blablabla…glaubst Du das wirklich? Ignorierst Du die offenen Antisemiten, das nicht Distanzieren, das Weiterverbleiben der Judenhasser in dieser Partei? Ignorierst Du so sehr, dass sie diese Menschen nicht rauswerfen, dass sie die Brit, auf Du Dich selbst so freutest, verbieten wollen, das sie Dinge verbieten wollen, für die Du Dich selbst entschieden hast zu leben? Die Traditionen, die Du Dich als junger Mann verpflichtet hast zu zerstören? Du hast Dich einem Volk angeschlossen, dass so lange flüchten musste und noch immer muss und Du dienst Dich einer Partei an, die das Grundrecht der Menschen abspricht, in Frieden ohne Lebensgefahr zu leben? Zu fliehen? Du kannst Dich nicht rausreden, dass Du keine Wahl hattest. Es war Deine Entscheidung, die Gebote leben zu wollen. Du lebst in dem Land, das entstand, weil es Hass gab, weil Menschen wegen ihrer Herkunft, Religion verfolgt und getötet wurden, weil sie endlich einen Ort auf der Welt brauchten, an dem sie sicher waren – und sind. Dort hat niemand angezweifelt, dass Du ein Recht hast, dort zu leben.

Du bist ein Sonntagskind, ein Glückskind, alles gelang Dir im Leben. Sorgen musstest Du Dir nie machen, nicht materiell. Und dann das? Seit Tagen bin ich fassungslos. Mir fehlt jede Erklärung. Ich denke an unsere lange Fahrt durch Deutschland. An den noch etwas naiven Jungen, der auf dem Weg zum Mann war, der mit seinen strahlendblauen Augen schnell die Herzen gewann. Und nun? Wo bist Du falsch abgebogen? Wo hast Du aufgehört zu sehen? Hätten wir damals mehr hinsehen sollen?

Ich weiß nicht, was geschah. Warum Du wurdest, wie Du wurdest. Ich muss immer wieder an Dr. Faustus denken…Ich hoffe, dass Du, eines Tages aufwachst. Wieder zu Sinnen kommst. Ich will Deine Bilder nicht mehr sehen. Du wirst nicht mehr auftauchen, wenn ich mal wieder auf diese Seite schaue. Aber Du hast Deine Spur hinterlassen. Keine gute. Eine, die schmerzt.


photo credit: ulrichzeuner Emil Jannings und Gösta Ekman in Murnaus Faust-Film via photopin (license)

7 Kommentare

  1. jim jim

    Das tut weh, ein bitterer Verlust, es ist traurig, richtig traurig.

  2. Ich sehe Deinen Schmerz um den Freund von einst, frage mich mich auch, ob er vielleicht derjenige von Euch ist, der den längsten Weg geht, um bei sich anzukommen.
    Ich stutze über zweierlei in Deiner Beschreibung. Er pries die Schönheit seines beschnittenen Schwanzes und frage mich, mochte er ihn, der Teil von ihm vorher nicht? Erwarte keine Antwort. So wie Du ihn beschriebst, auch mit seiner Körperwichtigkeit, ich hätte folgend Deinem Text, ein schwules Coming -Out erwartet und staunte.
    Verdrängung kennt viele Wege.
    Vielleicht magst Du irgendwann mal wieder schauen, was er sozial im Netz so macht.

    • Das war vielleicht missverständlich, er interessierte sich für andere SChwänze, sprich, das Thema Coming out war da schon längst durch.

  3. Ich musste an eine Cousine und deren Mann denken: sie engagiert sich für Flüchtlinge und generell für Menschen in Not, er ist der AfD inzwischen gefährlich nahe gerückt.

  4. Alisa Alisa

    Danke für den Text! Ich habe auch schon im Bekanntenkreis gerätselt, warum diese Person jetzt bei der AFD ist. Vielleicht hat es mit seiner Naivität zu tun, vielleicht möchte er auch nicht mehr jüdisch sein…..das bleibt alles erstmal Spekulation, ohne dass er sich selber äußert.

    • jim jim

      Vielleicht auch ist er endlich „angekommen“, siehe Schonzeit vorbei, Seite 80. Denke aber eher, er ist ein Mensch ohne Basis, ohne Fundament. Immer auf der Suche nach Sinn, immer in einem Kampf um Anerkennung, deshalb dieses permanente Theater, der enorme Aufwand, deshalb der Drang, den anderen etwas vorzuspielen. Wenn es aber so ist, dann ist sein Engagement in der Afd allerhöchstens ein Zwischenspiel, nicht mehr. Aber was kommt dann?

      Ein armer, einsamer, bemitleidenswerter Mensch, eigentlich.

  5. Yankel Moishe Yankel Moishe

    Lebt am Strand von תל אביב?
    Was für ein גיור war das denn, bitte schön?
    קבלת מצוות stelle ich mir jedenfalls anders vor.

    Irgendwie erinnert mich die Story an folgenden Witz:
    Hitler (ימח שמו וזכרו) bekommt 2 Wochen Erd-Urlaub aus der Hölle, ist aber nach 3 Tagen wieder zurück.
    Er erklärt: „Ich finde mich auf dieser Welt nicht mehr zurecht.
    Die Juden kämpfen siegreich an drei Fronten, und die Deutschen denken an nichts als Geschäfte!“

    Ich kenne die Person nicht, möchte nur anmerken, dass man sich auch aus den falschen Gründen dem Judentum zuwenden kann…

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