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Ein Telefonat mit Frau H. über die Ignoranz im Erinnern

Neulich rief Frau H. an in meinem Büro an. Ich kannte sie nicht. Jemand ihr meinen Kontakt. Sie suchte Informationen zu ihrer Familie. Ich konnte ihr dabei nicht sehr helfen. Wir sprachen über das Leben, an deren Ende sie sich sah. Das Gespräch blieb mir noch lang nach Feierabend und all das, was darin für mich liegt, will ich versuchen zu ordnen.

Im Exil geboren

Sie erzählte mir, sie sei das Kind einer Französin und eines Deutschen, eine Katholikin und eines Protestanten, der von den Nazis zum Juden gemacht wurde und damit seine Stellung an einem wissenschaftlichen Institut, dann seine Arbeitserlaubnis und letztlich sein Zuhause verlor. Er konnte mit seiner Familie Deutschland noch verlassen. Frau H. selbst wurde im Exil geboren.

Erinnerung ohne die Erinnerten

Es war ein sehr angenehmes, anregendes Gespräch, eines, wie ich es lang nicht mehr führte. Ich konnte ihr zwar einen Hinweis zu einem Archiv geben. Und doch gerieten wir ins Plaudern. Sie erzählte, dass sie vor einer Weile in Berlin war: Per Zufall erfuhr sie über Bekannte aus den Medien, dass ihrem Vater, der wohl ein nicht ganz so unbedeutender Berliner war, erinnert werden sollte. Die Familie, die mit großem Glück überlebte, wusste nichts davon. Niemand hatte sie kontaktiert, gesucht oder gar gefragt, ob es ihnen überhaupt recht sei.

Das ist nicht ungewöhnlich. Oft schon beschlich mich das Gefühl haben müssen, dass es vielen durchaus engagierten Menschen vielmehr um das eigene Befinden, das Sichgutfühlen in ihrer Arbeit der Erinnerung geht, als um die Menschen selbst, derer sie doch vordergründig erinnern. Diese sind nur Mittel zum Zweck zu zeigen, dass die Engagierten „die Guten“ sind. Die Recherche hört zu oft auf, wenn es um die Überlebenden geht, um die noch Lebenden, die Nachfahren. Sie sind zu oft nicht interessant, ihr Denken und Fühlen spielt keine Rolle, überhaupt, ob sie das möchten, was hier passiert. Natürlich, manche Suche ist schwierig, manch Name zu gewöhnlich für ein Suchen und Finden. Manche Suche ist schon gleich zu Beginn ohne Ergebnisaussicht. Doch bei Frau H.? Es wäre nicht schwer gewesen. Ihren Namen gibt es selten. Er ist mit einer einfachen Internetsuche leicht findbar und auch, dass es diesen Namen nur noch zwei Mal in zwei kleinen europäischen Ländern gibt. Der Verdacht liegt nahe, dass schlicht nicht gesucht wurde. Dass man (sich) stolz feiern wollte in einer Erinnerungszeremonie, ohne die Familie der zu erinnernden, – doch es geht noch weiter.

Sie erzählte, wie ihr alles wie im Film erschien. Sie erfuhr davon drei oder zwei Tage vor dem Ereignis. Zu dritt brachen sie fast Hals über Kopf nach Berlin auf, um dabei zu sein. Vor Ort sah sie, dass auch ihr Name darunter war. Ihr Name. Frau H. wunderte sich „Ich wurde doch erst später im Exil und Sicherheit geboren! Und ich lebe!“ Sie fragte, was ich davon hielt. Nun zu viel gesehen und gehört. Unser Gespräch wurde zu ihrem Nachdenken. „Was würden meine Eltern denken? Ich denke jetzt heute, nachdem etwas Zeit vergangen ist, sie wären zufrieden und so kann auch ich meinen Frieden machen damit. Dennoch, es bleibt ein eigenartiges Gefühl.“ Ein Gefühl, dass ich nachvollziehen kann, habe ich schon oft genug solche Geschichten gehört. Die Lebenden sind der Störfaktor der guten Deutschen Erinnerung.

Resignation

Wir sprechen weiter über das Leben, über Berlin. Sie fragt, ob ich Kinder habe. Nein, habe ich nicht. Fast zaghaft sagt sie, dass es gut sei. Die Menschen haben nichts gelernt. Sie hatten alle Möglichkeiten und doch haben sie nichts gelernt. Sie sorgt sich um ihre Enkel. Kinder mit jüdischen Ahnen in einer Welt, deren Antisemitismus, Rassismus, nicht weniger wird. Er wird mehr, lauter und unversteckt, sagt sie, die sie schon so viele Jahre auf dieser Welt ist, schon so viel erlebte und hoffte.

Und ich? Immer wieder höre ich von dieser Resignation und ich höre sie auch in mir. Ich bin müde, ich mag nicht mehr. Ich habe keine Illusionen und doch mache ich weiter, irgendwie vielleicht. Warum? Ja, warum? Weil es nicht anders geht. Weil zu viele still sind, sich nicht scheren darum, wie es marginalisierten in unserer Gesellschaft geht. Wichtig scheint nur das kleine Selbst, die anderen sind egal. Der Rückzug ins Private. Eine Biedermeiergesellschaft.

Doch nicht resignieren?

Es sind Gespräche wie dieses mit Frau H., die mich doch nicht ganz resignieren lassen. Weil sie wissen soll, dass es Menschen gibt, die sich mühen. Und vielleicht auch die Engagierten, die sich nicht um die Lebenden scheren, doch eigentlich etwas Gutes wollen und ihnen jemand sagen sollte: Es geht nicht um Euch, wenn Ihr das tut! Es geht um die Lebenden. Es geht um die, die Angst haben müssen auf deutschen Straßen, um die, die keine Wohnung bekommen, weil der Name nicht Müller, Meier, Schulze ist, es geht um die, denen man nach Generationen noch ausreichende Sprachkenntnisse unterstellt, weil sie nicht an einen christlichen Gott glauben, kein glattes Haar und helle Haut haben, um die geht es. Es geht auch um die junge Frau mit besten Noten, dem besten Testergebnis, die nicht als Journalistin beim Fernsehen arbeiten darf, weil man meint, es wäre zu schwierig in den kleinen Dörfern, da sie ein Kopftuch trägt. Sie selbst wird nicht gefragt. Sie zählt nicht. Man entscheidet für sie. Wohlwollend. Fürsorglich. Ignorierend. Paternalistisch.

Es ist nicht so, dass ich nicht sehe. Ich höre und lese und habe manchmal Hoffnung, doch sie ist klein und bezogen auf zu wenige. Am Ende zieht man sich wieder ins Reihenhaus zurück, schneidet den Rasen auf 1 cm, wäscht das Auto am Samstag, schreibt Namen auf von Menschen, die nicht gefragt werden, und an der Straßenecke brennt das Haus von der Familie, die doch eigentlich sowieso gar nicht hier her gehörten mit ihrem tiefschwarzen Haar. Ja, was soll man da machen? Irgendwie hätten sie es wissen müssen. Ich will keinen Ärger haben.

Nie wieder! vs. Immer noch!

So lange Menschen Angst haben müssen in Deutschland, solange die ersten Artikel des Grundgesetzes nur Papier sind und nicht Leben und Ihr nichts dagegen tut, könnt Ihr Eure Tafeln, Stelen und Steine verschrotten. Sie sind nur Marker dafür, dass Ihr zwar der Toten gedenk, doch die Lebenden ignoriert. Nie wieder? Solange Kinder unter Bewachung zur Schule gehen müssen, solange man durch Sicherheitsschleusen geht, um zu beten, solange man sich nicht trauen kann, ein Zeichen seines Glaubens öffentlich zu tragen, und besser nicht darüber spricht, solange ist es kein „nie wieder!“, sondern ein „immer noch!“ Das pressewirksame „Erinnern“ im Vergessen und Wegsehen und Schweigen ist der Marker, dass nichts gelernt wurde, dass wir nichts gelernt haben und es auch nicht tun werden.


Foto: Juna Grossmann, 2020 | Denkmal ehem. Synagoge Lindenstraße Berlin nach einer Feier der Versicherung, die sich heute auf dem Grundstück befindet.

Ein Kommentar

  1. jim jim

    Ein, in jeder Hinsicht, großartiger Beitrag!

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