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Beten ohne Gott(?) – Blick in einen humanistischen Siddur

Es war einer dieser langen dunklen Wintertage und eine seltsame Erscheinung von SAS (Siddur Aquiring Syndrome). Nun bin ich weit von der Siddurimsammelleidenschaft des Chajm Guski entfernt, muss dennoch eingestehen, dass ich immer auf der Suche nach “dem perfekten Siddur” für mich bin. Die schönsten, zweifelsohne kommen von Koren Publishers. Nicht nur äußerlich sind sie durchdacht, gut gedruckt und zeigen darin die lange Erfahrung im Geschäft.

Im deutschsprachigen Bereich sieht es da etwas magerer aus, schauen wir uns im deutsch-liberal-jüdischem Angebot um, wird es, naja, sagen wir: unhandlich. Doch das ist ein anderes Thema und sollte dem Spezialisten drüben bei Sprachkasse überlassen werden, der an diesem besagten Wintertag doch schuld war, dass ich stöberte: Ein Einband eines Koren-Sacks-Siddurs hatte es mir angetan. Offensichtlich ging es nicht nur mir so, sondern auch anderen. Er war ausverkauft.

Suche auf anderen Portalen und dabei ein Stolpern über “The New Jewish Humanist Siddur” von William D. Thompson. Ich hatte Fragen.

Vom humanistischen Judentum hatte ich gehört. Es gab unter anderem einige Artikel dazu in der Jüdischen Allgemeinen, weshalb ich nicht weiter darauf eingehen werde. Grob gesagt ist es ein nicht theistische Form des Judentums. Observantere Vertreter des Judentums mögen jetzt einwenden, dass das kein Judentum sei. Kein Thema hier und jetzt.

Das humanistische Judentum ist in den USA offensichtlich eine feste Größe. Es heißt laut eigenen Auskunft jene willkommen, die nicht an Gott glauben, aber dennoch eine gewisse Tradition aufrecht erhalten wollen. Vergleichen wir hierzulande Aussagen von Vertretenden des Humanistischen Verbandes mit jenen des humanistischen Judentums, so ist das Wort Humanismus in Buchstaben wohl das Einzige, was sie teilen. Es geht dem humanistischen Judentum nicht darum, Menschen mit einem Glauben an Gott zu verurteilen, ihnen mitunter den Verstand und Denken abzusprechen, sondern jenen, die diesen Glauben nicht haben, eine Alternative zu geben. Interessant. So konnte ich dann auch den Rabbiner oder die Position eines Rabbiners innerhalb des humanistischen Judentums verstehen. Vor ein paar Jahren sah in einer Fotoausstellung ein Porträt eines humanistischen Rabbiners aus New York, was ich da noch verwirrend fand. In meiner Vorbereitung für diesen kleinen Artikel beschäftigte ich mich nun also mit der Ausbildung für angehende humanistische Rabinner:innen. Diese Ausbildung scheint keineswegs “Judentum light” darzustellen, wie es von einigen gern auch dem liberalen Judentum unterstellt wird. Die Ausbildung erscheint mir sehr klassisch – inklusive Hebräischkenntnissen und Ausbildungsanteile in Israel. Auch dort wurde ein Institut eröffnet. Die praktische Arbeit wird in Gemeinden vor Ort gelernt.
Dennoch, in allen Artikeln, die ich bisher über humanistisches Judentum las, stand sehr deutlich, dass es keine Gebete gäbe. Zwar Ersatzrituale für bestimmte Lebensabschnitte: Brit Mila, Bar und Bat Mitzwa und Heirat, aber eben kein Gebet. Um so erstaunlicher war es, einen Siddur zu finden unter dem Titel Siddur. Keine “Meditations”, keine “Thoughts”, sondern ein wirklicher Siddur. Lange Rede, meine Neugier war geweckt, die Kosten nicht hoch: bestellt.

Nach der Ankunft war wohl das erste Verwirrende, dass dieser Siddur von der falschen Seite geöffnet wird, also von links nach rechts. Bis auf das Vorwort, gibt es keinen hebräischen Buchstaben, wohl aber hebräische Wörter, transkribiert.

Auch das machte mich stutzig: Der Aufbau ist auf den ersten Blick nicht anders, als in einem anderen (liberalen) Siddur. Selbst die Titel der Gebete entsprechen denen, die wir kennen. Was also ist hier anders, außer, dass der Gottesbegriff ausgelassen wird? Wem werden die Gebete gewidmet und warum? Antworten hierzu findet man im Vorwort Thomsons, der kein Rabbiner ist, ein paar Antworten für seine Beweggründe, diesen Siddur anzubieten aber auch, was Gebet heißen kann und warum es nicht abzulehnen ist, es aber die Wahl der einzelnen sein sollte.

Er sieht die Bedeutung im jüdischen Gebet in der Selbstbeurteilung und dem Ausdruck von Hoffnung, die für Menschen, ob nun theistisch oder atheistisch eine Bedeutung haben kann. Er schreibt weiter: “für humanistische Juden, kann dieses Verständnis von tefillah als Selbstreflektion oder Meditation ein wertvolles Werkzeug sein. Anders als kriecherischer Lobpreis und Lobhudelei eines Gottes, ist tefillah eine meditative Übung, die humanistische Juden praktizieren können, um über ihr eigenes Verhalten, Hoffnungen und glauben zu reflektieren, aber auch, um sein Staunden und seine Dankbarkeit, für die vielen Segnungen des Lebens, auszudrücken.” „kriecherischer Lobpreis und Lobhudelei“ – harter Tobak. Weiterlesen?

Thompson geht weiter auf die Frage ein, wie er in den Texten und mit dem Gottesbegriff umging, die er nicht gänzlich vermied. Er sieht die Tradition, die mit einem Gott begann und die er anerkennt und als essentiell erachtet, wie wir in Europa auch die Geschichten der griechischen, nordischen und römischen Götter anerkennen. So interpretiere ich auch seine Erklärung, warum er zum Beispiel auch das Schma anders gestaltete als es offensichtlich sonst im humanistischen Judentum üblich ist. Er schreibt „Statt das Schma zu vermeiden, erkenne ich an, dass Adonai historisch der Gott unseres Volkes ist, auch, wenn wir nicht glauben, dass er jemals wirklich existierte.” Seiner Interpretation des Schma ist eine weitere Version aus dem Humanist Manifesto III begefügt.

Der Siddur ist im Aufbau den traditionelleren Versionen angelehnt. Man könnte damit in der Tat einem Gottesdienst folgen, ohne Gott. Was es interessant macht, aber irgendwie auch merkwürdig im Gefühl. Es gibt die Möglichkeit, Traditionen zu folgen, selbst wenn man keinen theistischen Glauben hat. Es ist aber auch ein Weg, jüdische Traditionen in einem atheistisch jüdischen Umfeld weiter zu geben oder auch weiter zu leben.

Wie groß die Gemeinschaft des humanistischen Judentums ist, ist mir nicht bekannt. Wie bei vielem, was die Vielfalt jüdischer Wege betrifft, finden wir sie in den USA, wo es entstand und in Israel. Europa, speziell Deutschland, scheint ein blinder Fleck zu sein. Dabei mangelt es nicht an atheistischen Juden und Jüdinnen. Persönlich finde ich diese Wege nachvollziehbar.

Besonders gefällt mir, dass das humanistische Judentum zeigt, dass man Humanist sein kann, ohne Religiosität zu verachten. Man möge mir diese Betonung verzeihen, doch spricht hier die durchgehend negative Erfahrung mit Vertreter:innen des humanistischen Verbandes aus mir. Menschen, die nicht fragten, was und ob man glaubt, sondern schnell und aggressiv ihre Vorurteile parat haben. Bedauerlicherweise. Ich denke, ich werde noch viel über diesen Siddur, der mir einerseits so fremd erscheint, dessen Idee ich aber durchaus nachvollziehen kann, nachdenken.

Wohin mich dieses Denken bringt? Wir werden sehen. Schließen möchte ich mit einem Witz, der im Vorwort des Buches erscheint:

“Ich wurde an einen Witz über den Sohn eines jüdischen Atheisten erinnert, der auf eine katholische Schule gesandt wurde und dort die Dreifaltigkeit kennenlernte. Als er seinem Vater erzählte, was er gelernt hatte, sagte dieser zu ihm “Hör mir gut zu. Wir sind Juden. Es gibt nur einen Gott und wir glauben nicht an ihn!”

The New Jewish Humanist Siddur, William D. Thompson S.17-18

The New Jewish Humanist Siddur
Non-Theistic Liturgy for Weekdays, Shabbat, and Holidays
William D. Thompson
ISBN: 9798681100300


photo credit: Klaus Wessel Do not drive faster than your guardian angel can fly … via photopin (license)

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