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Omer zählen

Vor einem Jahr dachten wir, dass wir mit Vernunft gegen das Virus ankommen. Vor einem Jahr dachten wir, dieses Jahr den Seder mit Freunden und Familie feiern zu können. Vor einem Jahr war noch Energie, Glauben an Vernunft und Wissenschaft. Vor einem Jahr war auch der Glaube an die eigene Unverletzbarkeit.

Vieles ist anders nach diesem einem Jahr. Menschen gehen unterschiedlich damit um. Allen gleich scheint die Müdigkeit. Ich bin nicht weniger müde. Zu meiner Arbeit sind Hygienekonzepte, technische Unterstützung, Sorge um Kolleg:innen und sehr viel Kopfschütteln hinzugekommen. Ich weiß nicht, wie viele private Trostgespräche ich führte, im Glauben, ich kann alles gut wegstecken, kann anderen Kraft und Zuversicht geben. Kann ich das?

Ich habe das Glück, nicht zu welken, wenn ich Menschen nicht physisch sehen kann. Das ist ein Segen in diesen Zeiten. Doch meine Energie ist endlich. Ich sehne mich nach Museen und Ausflügen, nach Reisen und nach Fotografieren. Ich werde mich weitere Monate sehnen, doch ich weiß, es wird wird vorbei gehen. Wir werden diese Möglichkeiten wieder bekommen.

Wie ging es den Menschen auf einer 40jährigen Reise ohne dieses Wissen? Daran muss ich oft denken. Und wie ging und geht es den Geflüchteten, die sich auf den Weg nach Europa machen mussten und teils noch immer auf ihren Wegen festsitzen? Ohne Aussicht? Wie geht es den Menschen, deren Leben immer Isolation sein muss, da ihre Immunsysteme nicht stark genug sind? Wie jenen, die in dieser Zeit Angehörige und Freunde verloren?
Perspektivwechsel helfen mitunter, die eigene Situation anders zu betrachten. Rituale können zudem helfen, den Blick von allen Negativschlagzeilen auf anderes zu lenken, Strukturen zu geben. Im letzten Jahr sind einige (religiöse) Rituale in meinem Leben (wieder) eingekehrt. Wie aktuell das Omerzählen.

Ich zähle damit nicht trivial jeden Tag einen Tag mehr bis 49. Jeden Tag bzw. Abend lasse ich mir eine Frage stellen. Sieben Wochen Achtsamkeit in gewisser Weise. So kann man es im derzeitigen Meditiationshype gut beschreiben, ein über 3000 Jahre alter Hype. Christ:innen mögen Ähnliches bereits aus ihrer Fastenzeit kennen, Fastenkalender kommen mir da in den Sinn.

Ich weiß nicht, ob ich es durchhalten werde, jeden Tag zu zählen. Ich weiß nur, dass ich lang nicht tat und den Wunsch verspüre, zu zählen in diesem Jahr und mit jedem Tag dem Ende der Einschränkungen und meiner Impfung näher zu kommen. Ich will mich auf die wichtigen, immer währenden Dinge zu konzentrieren, statt der Aufregung ausgeliefert zu sein. Ich bin dankbar, dass ich diese Quellen haben und ihnen folgen darf, darin Ruhe finden kann – im besten Fall etwas Entwicklung als Mensch.


Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Omer zu zählen. Populär sind sicher die Apps, die von unterschiedlichen Strömungen angeboten werden. Ein schöner Kalender ist auch der Omer Calendar of Biblical Women, hier als PDF, den ich irgendwann vor Jahren schon einmal erwähnte. Wie zählen sie, wenn Sie zählen?


Foto: Ein Omer-Kalender aus Italien, hergestellt im Jahr 1804. Ausgestellt im Jüdischen Museum London (JM 633). Ethan Doyle White, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons


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2 Kommentare

  1. Ich wollte dieses Jahr wieder mit dem Omer-Kalender von Jill Hammer zählen wie ich ihn von ritualwell.org her kenne. Die hier gezeigte pdf-Variante ist viel praktischer, weil sie das Scrollen erspart. Vielen Dank für den Hinweis.

    • Die PDF-Version hat mich auch gefreut. Schön, dass Sie Ihnen ebenso gefällt.

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