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1700 Jahre JLiD – oder die alltägliche Ignoranz im „Festjahr“

Ich bin dessen schon so müde und dennoch merke ich, wie mich die Ignoranz angreift. Das Ignorieren, das mich weniger treffen würde, wenn nicht dieses “Festjahr” wäre. Ein Jahr, von dem ich wenig erwartete und doch hoffte. Ich bin Optimistin und gebe doch so gerne eine Chance und lasse mich vom Gegenteil überzeugen. Dass schon im dritten Monat diese Hoffnung enttäuscht wird, nein, das habe ich nicht kommen sehen. Ich schwanke zwischen Unglaube, Zynismus und Verzweiflung.

Nachdem Juden und Jüdinnen schon bei der Diskussion zu Lockerungen zum Jahresende ignoriert wurden, Sie erinnern sich, im Dezember findet auch Chanukka statt, nicht nur Weihnachten, trifft es im Moment umso härter. Man lasse es sich auf der Zunge zergehen: In dieser Woche beginnt Pessach, ein Fest, das gewöhnlich mit Freunden, Familie, Gästen gefeiert wird. Das war im letzten Jahr nicht möglich. Auch in diesem wird es so sein. Das Land „feiert“ 2021 1700 Jahre jüdisches Leben, aber Menschen mit jüdischer Religion werden nicht mitgedacht, nicht erwähnt, ausgeblendet, geht es um Lockerungen. Wir erwähnen nicht einmal in irgendeiner Sonntagsrede, dass jüdisch religiöse Menschen längst ohne Klagen ein ganzes Festjahr außerhalb jeder Normalität verbrachten.

Wieder, ich bin gegen Lockerungen, wenn wir die derzeitige Situation betrachten. Die Gesundheit steht über allem – wenigstens im Judentum. Danke, der lieben @stadtpoetin, die heute ein wenig über die andere Sichtweise im Christentun erzählte. Ich lernte dazu. Vieles ist befremdlich aus jüdischer Sicht, aus menschlicher sicher nachvollziehbar.
Es ist zwar nicht schön, dass wir schon das zweite Mal Pessach vor Kameras feiern, hoffte ich im letzten Jahr auf etwas anderes. Aber die Dinge sind wie sie sind. Pikuach Nefesch.

Heute Abend sind wir genötigt, zu hören, dass man sich in der Kirche Deutschland öffentlich empört, dass man gebeten wurde, keine Präsenzg’ttesdienste zu Ostern anzubieten. GEBETEN. Es ist nicht verboten worden. “Es seien die höchsten christlichen Feiertage.” Ist das so, liebe Kirchenoffizelle? Und Sie denken nicht, dass andere Religionen ebenso höchste Feiertage haben, an denen sie sich den Vorgaben untergeordnet haben. Ohne zu murren. Sehen Sie nicht Ihre Privilegien oder wollen Sie nicht? Sie werden mitgedacht bei Ministerpräsident:innen und Bundesregierung. Muslime, Juden, Hinduisten, Buddhisten, orthodoxe Christ:innen uvm. in diesem Land finden nicht einmal Erwähnung, finden nicht statt. Nicht mal im Festjahr 1700 Jahre Juden in Deutschland. Eins schönes Sinnbild, genau betrachtet. Wir finden nicht statt – außer auf Podien zu sitzen und zu sagen “Ach lassen Sie nur. Es ist ja alles so schön.” Und alle freuen sich „weil sie hier leben wollen“.

Dass das besser geht, zeigen übrigens andere europäische Länder. Man denkt die religiösen Minderheiten mit, man sieht sie. Nur Festjahre ruft man nicht aus, für die, die nicht gesehen werden.

Ich bin mütend, wie es dieser Tage immer öfter heißt. Die öffentliche Ignoranz ist seit langem nicht so deutlich geworden, wie in dieser Pandemiezeit. Und ich bin enttäuscht, mehr noch von Ihnen, liebe offizielle Vertreter:innen der Kirche, die sie sich nun über Ihr bisschen erbetene Einschränkung empören. Ein wenig Demut ob Ihrer Privilegien ist angebracht. Ein offizielles Zeichen von Ihnen in Blick auf „die Anderen“ wünsche ich mir dennoch, von Ihnen ganz konkret.

Zum Glück für mich und meine Nerven muss erwähnt sein, dass ich liebe christliche Freunde habe, die für die Kirchen arbeiten und diese Dinge ebenso kritisch sehen, die dazu stehen und darüber sprechen. Danke für Eure Offenheit. Ich hoffe, Ihr seht mir meine Wut nach.

Was bleibt: Mein Wunsch den Seder, den ich mir für dieses Jahr wünschte und von dem ich schon seit Wochen weiß, das er nicht wird stattfinden können, aufs Nächste zu verschieben und zu denken: Nächstes Jahr vermutlich nicht in Jerusalem, aber mit Y. und L. und wer weiß, mit wem.


Photo: Noamfurer, CC0, via Wikimedia Commons

3 Kommentare

  1. Kedorlaomer Kedorlaomer

    Auf der anderen Seite ist es vielleicht nicht das Schlimmste, wenn Nichtjuden nicht zu viel über Juden nachdenken. Solches Nachdenken hatte in der Vergangenheit manchmal unangenehme Konsequenzen, obwohl es vermutlich in unserem Zusammenhang nicht zu befürchten ist.

  2. Margot Papenheim Margot Papenheim

    Ich (Christin) kann Ihre Frustration sehr gut nachvollziehen. Und ich teile Ihre Kritik am Verhalten der Kirchen bezüglich der Ostergottesdienste uneingeschränkt. Es ist beschämend. Ein wenig tröstet mich nur, dass manche Gemeinden vor Ort sich zur Absage der Präsenzgottesdienste entschieden haben – und einige davon (wie meine eigene) nicht „nur“ aus gebotener Vorsicht wegen Corona, sondern ausdrücklich auch aus Solidarität mit den vielen, die trotz guter Schutzkonzepte nicht „aufmachen“ können.

  3. Kai Kai

    Mal ernsthaft, was anderes erwartet???

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