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Und nirgends: Geduld

Seit einem Monat und zehn Tagen lebe ich in dem, was man Lockdown nennt. Das ist nicht lang. Mich wundert und vor allem ängstigt mich das, was ich in Wettkampf von Politikerinnen und Politikern sehe, vor allem aber, was ich auf den Straßen meiner Stadt erlebe. So dass ich mich frage: Wo wird es hinführen?

Die Ungeduld mit allem ist ein Symbol unserer Zeit: „Wann sind wir da?“ fragen wir als Kind auf Wanderungen und Reisen und manch einer heute noch, obwohl wir voller Technik und Überwachung bis auf die Minute wissen, wann wir ankommen werden. Doch dies ist eine andere Reise, deren Ziel und Dauer wir nicht kennen, die wir wenig kontrollieren können. Das, was wir dennoch im Griff haben, wird scheinbar täglich weniger beachtet. Je weniger Menschen Abstand halten, desto mehr wird nach Lockerung gerufen und angekündigt. Verantwortungslos. Ein anderes Wort kommt mir nicht in den Sinn. Ich habe Angst, nicht um mich.

Es ist das erste Mal, so scheint es, dass Menschen hier erleben müssen, dass sie vermeintlich keine Kontrolle haben. Keine Kontrolle über diese Reise, über das was kommen wird, über ihre Zukunft, das gerade uns Deutschen, Weltmeister der Rückversicherung! Wir kennen es nicht. Ab einem bestimmten „Status“ kontrollieren wir mehr unsere eigenen Leben, vor allem aber die Leben um uns herum. Das ist nun vorbei. Ein Virus interessiert nicht, wie viel man auf dem Konto hat und wie groß das Auto ist. Er macht keinen Unterschied. Ich kann es nicht beeinflussen und ich habe keine Safecard, nicht erwischt zu werden, und wenn doch, wie schwer.

Viele haben niemanden in ihrem Umfeld, der deshalb auf der Intensivstation lag, ich schon. Es hat mich noch demütiger werden lassen vor dem, was uns droht und vor allem, dass niemand sicher ist, sicher sein kann.

Heute bin ich zuhause, nicht im Büro. Ich gehe regelmäßig hin, nicht viel hat sich geändert. Es wurde nicht weniger Arbeit, es ist mehr. Pessach rauschte vorbei, so schnell wie nie und doch dachte ich an diesen Auszug in die Freiheit. Der Auszug der so schnell, überstürzt begann und von dem niemand wusste, wann er enden würde. Auch hier verloren die Menschen ihre Geduld. So, wie sie sie in den deutschen Großstädten verlieren. Die Parks und Straßen sind voll. Abstand? Wozu, wir sind doch durch! Angebetet wird zwar kein goldenes Kalb, doch blühen Verschwörungstheorien. Manch einer faselt von Berufsverboten und Aussetzung der Freiheitsrechte. Wirklich? Wir aber wissen, annäherungsweise, wann diese Reise vorbei sein wird, die uns nicht so schnell überrumpelte, wir waren einigermaßen vorbereitet, wir sind eine Zeit lang den Empfehlungen gefolgt, sind zuhause geblieben und haben sichtbar die „Kurve flach“ gehalten.

Doch noch war alles neu und faszinierend und irgendwie hatte man auch doch etwas Angst, ob das Kratzen im Hals nicht doch etwas mehr bedeutet als das Kratzen im Hals. Ach, es war doch auch aufregend, die leeren Straßen in der Nacht und der Lieblingsitaliener geschlossen und selber kochen und dann kein Klopapier, nirgends. Diese Hochspannung hat sich gelegt. Es gibt weiter Klopapier und Mehl, der Hefenotstand sollte nach Ostern beendet sein. Mit der Familie war man jetzt auch lang genug zusammen und mal wieder eine Line ziehen oder wenigstens was rauchen wäre doch mal wieder angebracht. Wenn das schon nicht, dann wenigstens shoppen! Wie soll man sonst ernsthaft ohne Gedränge überleben und dann die Begeisterung über den rabattierten Schuh, den man dieser Kuh da vorn im Outlet wegschnappen konnte. Man ist ja extra aus Zehlendorf angereist, immerhin.

Wir wollen wieder zu dem, was bekannt und gewohnt sich und waren doch jetzt auch lange brav genug, einen Monat und zehn Tage lang immerhin. Nur interessiert das das Virus nicht. Es geht nicht um Belohnung. Es geht nicht um Euch und Eure kleinen Leben, es geht um alle Menschen, um ihr Leben und vor allem Überleben. Das zu akzeptieren, scheint fast unmöglich zu sein. Selbst Moses durfte das Land, in dem Milch und Honig fließen nicht betreten. Es brauchte eine neue Generation, um dieses neue Leben beginnen zu können.

Dabei gibt Menschen unter uns, von denen wir lernen könnten, wie Geduld funktionier: Großeltern, Geflüchtete. Ich muss oft daran denken, worüber WIR uns beschweren. Haben wir doch ein Dach über dem Kopf, wissen, dass wir nicht hungern müssen und haben zumindest eine Idee davon, wann es zu ende sein könnte und doch setzen wir es aufs Spiel. Und trotzdem es noch immer Lücken gibt, noch immer Unternehmen, die nicht wissen, wie es weitergehen soll, die durch Rasterlücken fallen: Welch Privileg in einem solch reichen Land leben zu dürfen und wie wenig Demut, wie wenig teilen.

Ich sehe und glaube nicht an verantwortungsvolle Menschen in Supermärkten und Shoppingmalls. Die Menschen, in Deutschland brauchen offensichtlich klare Ansagen. Ansagen, wie Maskenpflicht. Es ist so wenig und doch so viel, das man tun kann. So wenig, um endlich wieder im Lieblingsrestaurant essen zu dürfen, um die Großeltern wieder zu besuchen und vor allem immer wieder Menschen nicht zu gefährden, um die sie vielleicht nicht einmal selbst wissen. Es ist hart ja, für jeden anders, aber es ist nicht unmöglich.

Wir, die wir seit 75 Jahren in Frieden leben dürfen, der Großteil von uns in Freiheit, sind getrieben von unseren Egos, getrieben davon wer wir sind, wer wir sein wollen, getrieben von Selbstoptimierung und immer wieder Kontrolle: Kontrolle über uns und andere. Ruhe und Geduld sind Eigenschaften, die nicht mehr zeitgemäß scheinen. Doch sie sind es, die jetzt unser Leben bestimmen sollten. Auch, wenn wir denken, wir seien unbesiegbar, so sollten wir daran erinnern, dass wir es sind.

Wir sind selbst dafür verantwortlich, wie unser Leben in Zukunft sein wird, ob wir selbst Menschen zu betrauern haben, Freunde, Familie, Nachbarn. Es liegt allein in unserer Hand. Nicht nur das Virus, auch müssen zu stoppen sein. Wenn wir aber so weiter machen, wie wir es seit dieser Woche tun, dann wird es still sein, sehr still. Doch dieses Mal haben wir nicht entschieden, dass wir ein paar Wochen und Monate die Stille zulassen, um das Leben zu retten, diesmal wird Stille endgültig sein und sie wird weh tun.


Bei dieser Gelegenheit fiel mir eine Geschichte von Roger Willemsen ein auf einer seiner Reisen nach Afghanistan. Er fragte einen Dorfältesten wiederholt, ob dieser glaube, das es Frieden geben würde. Er wich immer wieder aus und redete von anderen Dingen. Irgendwann antwortete er doch: „Ihr habt die Uhr und wir haben die Zeit.“ Zeit haben wir wohl schon lange nicht mehr.

Ein Kommentar

  1. Ich stimme zu.

    In Bayern haben wir seit dem 21. März diverse Beschränkungen. Das sind gerade mal vier Wochen. Seit Montag bemerke ich mehr Sorglosigkeit bei Fußgängern und Radlern. Der Autoverkehr hat auch wieder zugenommen. Im Büro ist auch schon wieder mehr tun, daran erkenne ich, dass die Menschheit wieder auf Reisen gehen will.

    Ich fürchte, in vier Wochen wird uns das alles dermaßen um die Ohren fliegen.

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