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Gedanken am 9. November

Schon wieder der 9. November, schon wieder die Zeitungen voll zwischen Erinnerungsshows, Pflichtveranstaltung und bei der Gelegenheit der Ankündigung des Besuchs der Gräbern gefallener Wehrmachtssoldaten am kommenden Sonntag, Volkstrauertag. Das Volk trauert um seine Täter. Ach kommen sie mir nicht mit privaten Familiengeschichten. Die sind persönlich, die brauchen keinen Volkstrauertag, sie sind eingegraben in den Familien.

Schon wieder der 9. November und ich scheine zynischer zu werden. Mit jedem Jahr ist dieses Spektakel absurder, abgekoppelter von der Realität unserer Tage, in der man Geflüchtete lieber ertrinken lässt, wenn sie nicht weiß genug für Europa sind, wenn man ahnt, dass sie nichts haben, zu dem es sich zurückzukehren lohnt. Absurder in der Untätigkeit und dem wiederholten Schweigen der Mehrheitsgesellschaft, dem Wachsen des Rechtspopulismus, dem Brennen von Unterkünften von Geflüchteten, dem weiteren Anschlag auf eine Synagoge an Jom Kippur, dem „ja was sollen wir denn machen“ und dem „Ich habe nun mal Angst“. Sollte die Angst, dass diese Menschen die Oberhand gewinnen, dass unsere Demokratie, die nun mal die beste Demokratie ist, die wir haben können und die sicher nicht perfekt ist, beendet wird aus Ignoranz, Egoismus und Faulheit nicht unendlich größer sein?

Ich sehe engagierte Gruppen, die ihr bestes versuchen und die oft nur an Tagen wie diesen die Beachtung finden, die sie das ganze Jahr über bräuchten. Ich sehe Gruppen, die jedes verdammte Jahr um ihr Fortbestehen bangen müssen, weil ihre Finanzierung nicht sicher ist, genau die Gruppen, die wir brauchen, um genau das nicht zu bekommen, vor dem wir Angst haben sollten: Populist:innen, Nationalist:innen, Menschenverächter:innen, Rechtsextreme.

Leben wir in schönen Zeiten? Mit Sicherheit nicht. Aber wie beim Klima liegt es allein an uns, ob die Zeiten schlechter werden, ob sie lebenswert bleiben für unsere Nachfahren.

Am 9. November lese ich privat keine Zeitung mehr. Ich kann es nicht mehr sehen, diese Scheinheiligkeit, die sich auf einzelne Pflichttermine beschränkt. Ich muss oft an Mati denken, dessen Haus nach dem Anschlag von Halle bewacht werden musste und dessen Nachbarn nicht ein Mal fragten, wie es ihm geht und ob sie helfen können. Die sich wohl eher belästigt fühlten von der Polizei in ihrer Villenidylle. Oder an Mike, der kurz nach Halle lustige Videos bekam ohne jegliches Kommentar, oder der einfachen Frage, wie es ihm ginge. Ich muss daran denken, wie eine Gedenkstätte sich verteidigen musste, an einem Gedenktag auch den örtlichen Rabbiner einzuladen und das Gedenken nicht am Schabbat stattfinden zu lassen. Ich muss daran denken, wie Sitzungen und Prüfungen munter an den hohen Feiertagen angesetzt werden. Wir man als Jude Urlaub beantragen muss, um seine jüdische Pflicht an diesen Tagen erfüllen zu können. Staatsverträge? Drauf gepfiffen. Und immer und immer wieder muss an den Umgang mit den Familien der Opfer des NSU und Hanau denken. Wie menschenverachtend kann ein Staat sein?

Dann sehe ich sie wieder mit ihren Kränzen und ihren geneigten Häuptern im Pflichtgedenken. Woran sie wohl wirklich denken, wenn sie da so stehen? Sicher nicht daran, wie sie die Arbeit der Aussteigerinitiative sicherstellen können oder sich öffentlich und deutlich als Stadt gegen den Rechtsextremisten zu stellen, der eine ehemalige Synagoge als Faustpfand hält. Was muss passieren, bis die Menschen begreifen, dass sie nichts zu suchen haben an Gedenkorten, Stolpersteinen und vor Synagogen, wenn sie nicht die restlichen Tage des Jahres genau so aktiv werden, wie beim Putzen der Steine.

Ich bin ihn so leid diesen Tag und den im Januar. Mit jedem Jahr werden sie leerer diese Tage, Hülsen dessen, was sie sein sollen. Wir sind an der Schwelle zu Zeiten, an die wir uns zum Glück nicht erinnern können, nur wenige können es noch. Doch niemand scheint zu begreifen, dass es auch zu anderen Zeiten langsam und schleichend und dann immer schneller ging und niemand sich rührte, bis die wenigen, die es taten, ihr Leben ließen. Wollt Ihr das wieder? Wollt Ihr, dass die Demokratie Vergangenheit ist? Habt Ihr nicht ebenso unbändige Angst zu sehen, wie Nationalisten die Parlamente erobern und die Demokratie Stück für Stück beschneiden. Ein ungesehenes und unbeachtetes Gemetzel. Und nur mit viel Glück werden irgendwann wieder Menschen an Gedenkorten stehen, und sich der Grausamkeiten erinnern, die hier in unserem Jetzt begannen. Wollen wir hoffen, dass sie daraus lernten. Wir scheinen es nicht zu können.


Gedenkrede zum 74. Jahrestag des Massakers von Gardelegen am
14. April 2019
als pdf oder hier im Blog – es ist nicht besser geworden.


Foto: words on the door von Juna Grossmann, 2020


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Ein Kommentar

  1. Kai Kai

    Hi Juna,

    Lassen Kopf nicht hängen. Bei dem Demokratiebewusstsein unsere Politikerkaste, bei der Bequemlichkeit der Masse der Bevölkerung, bei Äußerungen, die einem die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste wie:“ … es war eine Fehleinschätzung, es lohnt sich doch für die Freiheit zu kämpfen.“, da brauchst man sich nicht wundern wie jedes Gedenken lästig, jede Empathie geheuchelt und jeder Funken Verstehen gelogen erscheint.

    Ich glaube, dass das was du mit deinen Worten umrahmst symptomatisch für die aktuelle Generation ist; nicht mal hinterfragen, nicht kritisch sein, nichts was mit Aufwand und Unbequemlichkeit zu tun hat.

    Es kommen auch wieder bessere Zeiten und Menschen wachen auf, hab ein bisschen Geduld und Vertrauen und Hoffnung.

    Kai

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