Zum Inhalt springen

Die fehlende (Be)Achtung in der Pandemie

Die Welt ist mitten in einer Pandemie, auch das bisher recht komfortable Deutschland gerät an seine Grenzen, Menschen sterben täglich zu Hunderten, doch nichts scheint wichtiger als Feiern von mehr als fünf Menschen zu Weihnachten.

Das Thema, das mich dieser Tage herumtreibt, ist die Fokussierung auf Weihnachten und Silvester. Es scheint, das man in diesem Jahr dem Untergang nahekommt, feiert man nicht mit möglichst vielen Menschen Weihnachten. Etwas, was in den vergangenen Jahren in den sozialen Medien eher als lästig kommentiert wurde. Das ist für Außenstehende etwas verwirrend. Ich habe natürlich eine Ahnung, was hier psychologisch passiert. Doch denke ich sehr pragmatisch: Lieber ein Fest ohne den Tisch zu teilen, als nie mehr den Tisch teilen zu können. Ich erlaube mir dieses Urteil, haben u.a. Juden und Muslime bereits wichtige Feste in dieser Pandemie hinter sich gebracht. Selbstverständlich war, dass die Seder nicht am großen Tisch, sondern im Internet stattfanden, beisammen sein, ohne andere zu gefährden. Oder das Fastenbrechen zu Ramadan eben doch etwas stiller und spiritueller war, wie es meine liebe Freundin S. ausdrückte. Selbstverständlich, ohne Diskussion. Wir wollen, dass unsere Lieben und auch wir gesund bleiben.

Ein Thema für die Politik war das nicht. Vermutlich wurde nicht einmal daran gedacht. Gehen wir in den Herbst, konnte Rosch Haschana in einigen Orten noch draußen stattfinden, zu Jom Kippur wurde es kälter und damit schwierig. Die Synagogen waren nicht der beste Ort und die Gemeinden weltweit waren erfinderisch. Mir hat es einen der schönsten Tage beschert: eine Reise, ohne reisen zu müssen. Jetzt in aller in meinen Augen unverantwortlichen Diskussion um die Zahl der Menschen, die am Weihnachtstisch sitzen dürfen wird mir Angst und Bange. Ich sehe in meinem Umfeld, dass Reisen geplant werden, je nachdem, wo am meisten Menschen zugelassen werden. Zum Glück, und dafür bin ich dem Berliner Senat sehr dankbar, wird es in Berlin keine Lockerungen geben. Allerdings ist hier gewöhnlich in der letzten Woche des Jahres kaum noch jemand in der Stadt, fahren doch alle nach hause . So wird es wohl noch eher in diesem Jahr sein, mit Sonderzügen und Fernbussen, die dann wieder fahren.

Natürlich ist Weihnachten das Fest der Mehrheitsgesellschaft und wird auch im weitestgehend atheistischen Osten des Landes gefeiert, dennoch geht mir das nicht (Be-)Achten anderer Religionen nah. Kein Wort fällt zu Chanukka, kein Wort zum orthodoxen Weihnachten am 6. Januar. Diese Menschen scheinen nicht zu existieren. Erleichterungen gibt es nicht.

Nochmals: Ich bin deutlich gegen jegliche Lockerungen im momentanen Stand der Pandemie, dennoch würde ich mich wünschen, dass “wir” auch auf politischer Ebene wahrgenommen würden. Das passiert jetzt und auch in den Wochen und Monaten zuvor nicht. Hat man sich darauf verlassen, dass die “anderen” vernünftig sind? Lediglich Fragen zur Anzahl von Betenden in Kirchen, Moscheen und Synagogen waren ein Thema – wie auch die Anzahl von Einkaufenden, Konzertbesuchenden etc. relevant waren. Es ging um Räume, nicht um Traditionen.

In vier Tagen beginnt Chanukka. Am ersten Tag wird die Chanukkia am Brandenburger Tor, wie seit vielen Jahren, entzündet. Ohne Publikum. Selbstverständlich. Pikuach Nefesch.

Spätestens bei den Einladungen Chabads zur Zeremonie, an der immer Politiker:Innen teilnehmen (in diesem Jahr übrigens neben Michael Müller auch Jens Spahn und Robert Habeck) hätte man denken können „Mensch, da war ja noch was. Da sind ja die „Anderen”, Menschen die möglichweise derzeit etwas anderes feiern und die vielleicht auch Sehnsucht nach ihren Lieben haben. Ja, die sind da und die bekommen keine Erleichterungen – man denkt nicht einmal daran, darüber zu diskutieren.

Es bleibt durch diese fehlenden (Be-)Achtung noch mehr das Gefühl, anders zu sein, anders gemacht zu werden, vor allem nicht gesehen zu werden. Gerade in Zeiten einer Pandemie hätte ich mir andere Signale gewünscht. In einer Zeit, in der der Zusammenhalt und das gegenseitige Sehen der Menschen in einer Gesellschaft so wichtig wäre, wird durch dieses Zeichen deutlich gemacht, dass es eben doch nicht so weit her ist mit der viel berufenen Selbstverständlichkeit anderer Religionen und Traditionen in unserem Land.

Als Folklore ganz hübsch und zum vorzeigen/schmücken (Stichwort 1700 Jahre jüdisches Leben), aber nicht genug, um mit gedacht und ich wiederhole mich be-achtet zu werden.

Einen schönen 2. Advent für Sie.


Der Livestream zur Chanukkia am Brandenburger Tor beginnt am 10. Dezember um 18:00 Uhr, das „Zünden“ der ersten Kerze finden sicher nicht vor 18 Uhr statt. Zu finden sind die nötigen Informationen dann (hoffentlich) bei den Initiatoren hier.


photo credit: mr172 Pariser Platz via photopin (license)

4 Kommentare

  1. Kedorlaomer Kedorlaomer

    Petuach Nefesch. Tippfehler für pikuach nefesch?

    • Autokorrektur, my friend. Ganz herzlichen dank!

  2. Kai Kai

    Tja, eigentlich hätte man Weihnachten schon strenger sanktionieren müssen. Aber was soll’s, das marktwirtschaftliche Weihnachten ist halt wichtig. Und je schwieriger die Zeiten um so weniger Kompromisse kann man machen. Und wir sind nunmal die kleinste Minderheit.

    Chanuka sameach

    • Ich glaube schlicht, man hat nicht an uns gedacht wie das ganze Jahr anderer Leute Feste nich relevant waren oder es überhaupt sind. Chanukka sameach auch Dir.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert