Als Prof. Dr. Christian Drosten im „Corona Update“ informierte, darüber nachzudenken, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Gleich vorweg: Ich verstehe ihn. Er gibt seine Zeit für Interviews und den Podcast, um zu informieren. Nichts weiter, wissenschaftlich, ohne Skandalisierung. Geht es um Information, um neue Erkenntnisse braucht es kein Aufbauschen, es braucht Fakten. Das gefällt nicht allen. Er wird angegriffen, wird für ein Spiel benutzt, dass uns inzwischen gänzlich normal erscheint, eine Schaustellung, die zu wenig hinterfragt wird. Ich bin Herrn Drosten (nicht nur) dafür dankbar, dass er hier so sachlich und deutlich ist.
Wir alle sind in den letzten Monaten und Jahren in ein Muster verfallen, dass uns normal wurde. Dann wurde Christian Drosten auf Twitter erklärt, er solle sich daran gewöhnen und müsse sich ein dickes Fell wachsen lassen. Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen, müssten das schon lange ertragen. Gedenken ließen mich nicht mehr los, für die ich versuche, Worte zu finden.
Niemand, absolut niemand muss sich „ein dickes Fell wachsen lassen“, um mit mit Dingen, wie Hass und Ausspielen in Positionen umzugehen. Es scheint nicht allgemein anerkannt zu sein, dass es Menschen gibt, die nicht die Öffentlichkeit suchen, um Publikum zu erhalten, um sich in den Mittelpunkt zu stellen, sondern über Fakten zu informieren. Es geht um andere Dinge, als um das „Hallo, hier bin ich, ich habe was zu sagen und Ihr müsst jetzt zuhören! (und mir zustimmen)“ An diesem Beispiel sehe ich den Unterschied zum extrovertierten Leben, in dem bei vielen nicht erkannt wird, ob es ihnen um „die Sache“, sei es der Kampf für Umweltschutz, gegen Rassismus, für mehr Kinderrechte oder anderes geht, sondern eher um sich selbst, um der Aufmerksamkeit willen.
Es sind oft Menschen, die nervös werden, wenn sie nicht eine bestimmte Anzahl an Likes bekommen und damit auch ihre Selbstbestätigung, gar -berechtigung daraus ziehen, Menschen, die davon ihren Lebensunterhalt bestreiten. Das hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Wertvolle stillere Stimmen, werden durch dieses Lärmen und Rufen übertönt, da sie auf Provokationen verzichten, die das Potential der Skandalisierung in sich tragen und allein dadurch Aufmerksamkeit bekommen. Sie ziehen sich zurück, weil sie eben nicht dieses „dicke Fell“ haben und sind ein Verlust für alle. Etwas ist falsch im System – und das nicht erst durch einen Virus.
Zurecht schildert Drosten den Versuch des gezielten Gegeneinanderausspielens von „Parteien“, die womöglich keine sind. Die jetzt hier und heute keine sein sollten. Die Zeit und das Thema verbieten es. Doch so funktioniert das System der Talkshows, des Skandals. So verkauft man – und hinterfragt das eigene wenig. Glücklicherweise gibt es immer mehr Medienprofis, die selbstkritisch erkennen, dass durch dieses System Dinge popularisiert wurden, die nie diese Aufmerksamkeit und damit größere Verbreitung hätten erhalten dürfen. Ein Anfang?
Fast scheint es, ohne Skandal, ohne Lärm, geht bei Twitter nichts mehr. Twitter ist kein Ort mehr, an dem man fragen konnte, wenn man etwas nicht wusste, kein Ort mehr, an dem überhaupt noch gefragt wird. Es ist heute ein: Das ist meine Meinung und wenn Ihr mir nicht zustimmt, seid Ihr mein Feind. Der Ruf in die Echokammer, aus der nur Bestätigung erschallen darf. Ich fühle mich dort nicht wohl. Ich mag das Rufen um Aufmerksamkeit nicht und bin gleichzeitig froh, um die wunderbaren Menschen, die ich dank dieses Mediums kennenlernen durfte und darf.
Wir haben nicht nur dort, sondern ganz allgemein verlernt, miteinander zu reden, trotz unterschiedlicher Meinung miteinander umzugehen und das Gefühl anderer zu respektieren.
Wenn also ein Wissenschaftler, dessen Beruf die Forschung ist, der sich nicht in die Öffentlichkeit gedrängt hat, der Öffentlichkeit wegen, sondern um einen Dienst für diese Öffentlichkeit abseits des Labors zu leisten, Angriffe gegen ihn verurteilt, sagt, dass dies keine gute Entwicklung ist, dann ist das zu respektieren: Punkt! Niemand, absolut niemand hat damit zu leben, dass er angegriffen wird. Dass er Hasspost bekommt, dass er bedroht wird, dass ihm Dinge zu Last gelegt werden, mit denen er absolut nichts zu tun hat. ABSOLUT NIEMAND. Jedoch scheint genau das normal geworden zu sein. Menschen gehen davon aus, dass das die Normalität sei, dass man eben damit leben, sich abfinden muss und je mehr einen sichtbar davon erreicht, umso wichtiger ist man. Ist das so? Was ist mit all den Menschen, die diesen Mist bekommen und nicht auf Twitter, Facebook oder sonstwo sind? Sind sie und ihre Arbeit weniger wert? Nein! Ein weiterer Gedanke: wir weißen, äußerlich privilegierten Menschen haben eine Wahl, auch diese, das Spiel nicht mehr mitzuspielen.
Mein Leben lang wurde mir gesagt, ich brauche ein dickes Fell, ein dickes Fell gegen die SED, gegen die Pionierleiter*innen, gegen Lehrer*innen, ein dickes Fell, wenn es nicht so lief, ein dickes Fell gegen Hass, ein dickes Fell gegen meine langen prekären Lebensumstände, ein dickes Fell als Frau, ein dickes Fell als Kind einer Alleinerziehenden, nicht zuletzt auch ein dickes Fell als Jüdin. Ich reagiere empfindsam auf derlei Aufforderungen. Dieses Fell habe ich nie bekommen und ich bin froh darüber. Diese Hülle mag zunächst hilfreich scheinen, sie stumpft uns aber auch ab. Sie lässt uns mitunter nicht mehr sehen, was normal sein sollte. Sie deckt Empathie auch in uns zu. Ein dickes Fell lässt uns am Ende vielleicht nichts mehr spüren, nicht mal mehr uns selbst.
Soziale Medien sind, und das vergessen wir gern, nur ein winziger Teil des Lebens. Es gibt mehr und immer mehr Menschen, die sich dort nicht bewegen. Wir, die wir auch in den digitalen Welten leben, tendieren dazu, das zu vergessen. Wir nehmen das dort als Standard wahr, was es nicht ist. Diese Welten bieten wunderbare Möglichkeiten, die heute zu oft durch Trolle, Hetze und Hass verdeckt werden. Wir könnten die Möglichkeiten zurückerobern. Ein Anfang wäre, andere nicht mehr darüber zu belehren, wie sie zu fühlen und zu reagieren haben. Wir könnten solche Information aufnehmen, darüber nachdenken und erkennen: „Interessant, daran habe ich noch gar nicht gedacht, eine Perspektive, die mein Spektrum bereichert.“ Und dabei belassen und mit unseren Tagen weiter machen. Nicht alles muss kommentiert und bewertet werden.
Es wäre schön, wenn wir diese Chance, womöglich gerade jetzt, nutzten. Wenn wir einen Anfang machen, wieder miteinander zu reden, statt uns zu beschimpfen, wenn wir darangehen, wieder die Farben zwischen all dem Schwarz und Weiß zu sehen und uns selbst in einer dieser Farben wiederzufinden.
Was wir nie vergessen dürfen: Hass und Menschenverachtung ist kein Normalzustand und darf es nicht sein.
photo credit: Peter Ras Broken Goodness via photopin (license)
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