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Buchbetrachtung: Rückkehr nach Polen von Emilia Smechowski

Wann war ich eigentlich das letzte Mal in Polen? Ich wohne gut 60km Luftlinie entfernt, ein Katzensprung und doch…. Ich glaube, das letzte Mal war, als ich auf Usedom den hügeligen Weg hoch zur Küste scheute und den Weg über Polen nahm. Es lebe Europa! Es lebe die Faulheit. Oder war es der Ausflug nach Kostrzyn, ungeplant bei einem Ausflug an die Oder? Das für viele Berlin-Brandenburger*innen klassische Ziel „Polenmarkt“ gibt es in meinem Leben nicht.

Schon in der Schule, warum wir, die wir so nah lebten, nicht Polnisch lernten statt Russisch. Polen war und waren näher. Natürlich passte es in keine Doktrin, natürlich war das ein Kindergedanke und natürlich habe ich mir im späteren Leben darüber wenig Gedanken gemacht.

Emilia Smechowski hatte andere Voraussetzungen, als sie ein Jahr mit ihrer Tochter nach Polen zog – zurückzog. Emilia wurde in Polen geboren, floh mit ihren Eltern 1988 nach West-Berlin, wuchs auf und wurde letztlich Journalistin. Emilia und diesem kleinen Buch verdanke ich den wichtigsten Satz in einem Buch in der letzten Zeit. Ich werde nicht müde, sie zu zitieren:

Nichtwissen, denke ich, ist nicht das Problem. Nichtwissen lässt Raum für Antworten. Falschwissen hingegen macht den Raum zu, und den Menschen auch.

Doch es gibt noch mehr zu entdecken, gemeinsam auf dieser Reise in dieses Leben in Polen, in Danzig, das doch vielleicht wie viele Städte weniger das Land sind als die Stadt selbst. Sie nimmt uns mit in ihre Verwirrungen, in ihr lernen, in ihr Anderssein, trotz Muttersprache. Wir werden mitgenommen in die Entwicklung ihrer Tochter im polnischen Kindergarten. Entwicklung als Mutter zwischen anderen Müttern dort. Die Geschichten, in denen wir die unterschiedlichsten Polinnen und Polen, nicht nur in Danzig, kennenlernen sind auch das Wiederentdecken der Heimat ihrer Eltern und Großeltern. Ein wenig Sehnsucht, ein wenig Enttäuschung, ein wenig Verzweiflung, Zweifel und Entdeckerinnenlust.

Zwei Kapitel möchte ich für mich hervorheben, da sie mir doch eine größere Bedeutung als andere hatten:

Führen in Auschwitz beschreibt die Arbeit einer Mitarbeiterin in der Gedenkstätte Auschwitz, ihr Engagement und ihre Probleme. Auch andere Mitarbeiter*innen kommen zu Wort, so es Emilia gelang, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. So zum Beispiel die Leiterin der konservatorischen Abteilung auf die Frage, was sie an den Objekten, den Hinterlassenschaften der hier ermordeten Menschen umgehen:

Wir berühren die Spur eines Menschen.

Wer in Geschichte arbeitet, weiß, wie schwierig es für Kolleg*innen auf der anderen Seite der Oder geworden ist, in Gedenkstätten und Museen zu arbeiten, weiter arbeiten zu dürfen. Auch das wird im Buch angesprochen, deutlich angesprochen. Piotr Cywiński scheint noch immer Direktor zu sein. Im Buch war das noch nicht ganz so klar. Was die neue Ausstellung bringen wird, wir werden es sehen.

Das für mich besonders berührende Kapitel war die Geschichte Wiktoria Grzybowska und ihrer Großmutter, die, ohne es zu wissen, jüdisch war: Eine katholische Jüdin. Erst vor zwanzig Jahren erfuhr die Familie und auch Großmutter Teresa davon. Kein Einzelfall, Teresa war, wie 5000 andere polnisch-jüdische Kinder versteckt, aber auch zum großen Teil ihrer Identität beraubt worden. Denn Befreiung und Kriegsende hieß für sie nicht, wieder zurückkehren. Es hieß für viele ein anderer Name, eine andere Geschichte – und eine andere Religion. In einem Verein kommen sie heute einmal im Jahr in Warschau zusammen:

Zwei bis drei Tage, an denen sie ihr Jüdischsein leben. Ihr polnischer Alltag bleibt katholisch. Nie würden sie ihren Nachbarn verraten, welche Religion sie wirklich haben. Dafür haben sie zu viel erlebt.

Es sind Schilderungen wie diese, die noch einmal deutlich machen, was es auch nach dem Krieg für viele Menschen hieß jüdisch zu sein. Und es sind Menschen wie Wiktoria, die Hoffnung geben auf ein jüdisches Leben – auch in Polen. Ein wichtiges auch hier sehr deutliches Kapitel. Danke dafür!

Ich bin froh, das Buch gelesen zu haben. Allein wäre ich nicht darauf gestoßen. Daher sei erwähnt, dass ich es der Empfehlung der wunderbaren beiden Menschen vom Podcast Feuilletöne zu verdanken habe, dass ich es las. Es ist nicht das erste Buch, das ich dank ihnen las.

Ich wohne weiter gut 60 km weit von Polen entfernt. Mein Nachbar W. ist in diesen Wochen diese Kilometer und noch etwas weiter gefahren, nach Hause, bis er wieder pendeln kann. Es ist still nebenan geworden. Kein freundliches Lachen mehr, kein Morgengruß beim Kaffee… vielleicht werden wir ihn doch besuchen, im Sommer, ein Auto mieten und in seinem Häuschen hinter der ehemaligen Grenze, die gerade wieder eine ist, einen Kaffee oder einen Selbstgebrannten trinken.

Das Buch von Emilia Schmechowski hat mich wieder näher herangeführt an das Land nebenan, das doch gar nicht so weit weg ist und irgendwie mal sehr viel näher war. Sehr zu empfehlen.

Emilia Smechowski
Rückkehr nach Polen. Expeditionen in mein Heimatland
Hanser Berlin, 2019
ISBN 978-3-446-26418-2


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Ein Kommentar

  1. kaethemargarethe kaethemargarethe

    Danke für den Buchtipp, ich schaue danach, sobald die Büchereien wieder offen.

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