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Das Gewürz von Auschwitz

In meinem Büro hängt eine Karikatur. Zwei Pärchen in Businesskleidung gehen untergehakt breit lächelnd durch irgendeine Stadt. Einer sagt zum Anderen:

„Ich kenne da ein Lokal, nichts ganz billig, aber die Großeltern der Wirtin sind in Auschwitz umgekommen.“

Man sieht diese Karikatur, wenn man in mein Büro kommt. Und ich sehe ratlose, verständnislose Gesichter davor. Sie wird nicht verstanden. Für mich aber sagt diese Karikatur alles, was falsch läuft. Und nun, nun hat einer dieser Wirtinnen des Landes die Gäste enttäuscht. Die Wirtin war nur eine ganz normale Wirtin. Sie kochte sehr gut, war nett, es gab keine Sperrstunde und man fühlte sich wohl im Lokal. Doch das reichte nicht, reichte der Wirtin nicht. Es war nicht immer voll im Lokal. Also ersann die Wirtin eine Geschichte, die Geschichte einer Klinik in Indien, die sie einst gründete und die Menschen hingen an ihren Lippen, erzählten den Freunden davon und brachten sie mit ins Lokal. Sie erzählte von der Großmutter, die so anders war als andere, erzählte von den Weisheiten der Großmutter, die einst ein anderes Leben hatte, die die Spuren der Shoa trug, die die Geschichten vom Großvater erzählte, der in Auschwitz umkam. Das Restaurant wurde noch voller. Man aß im stehen. Die Wirtin fühlte sich wohl. Das ist, was sie suchte. Die Geschichten, sie wurden bunter, ausgeschmückter. Mehr Details kamen hinzu und manche wurden vergessen. Das Lokal war von nun an jeden Abend übervoll. Die Gäste wollten nicht mehr gehen. Sie wollten diese Geschichten hören, das Essen der Wirtin kosten, die Familie in Auschwitz verlor, den leichten Schauer spüren, den sie auch suchten, wenn sie direkt zu den ehemaligen Krematorien in Gedenkstätten gehen, den Schauder, den sie suchen, wenn sie auch in Berlin im jüdischen Museum fragen, wo diese denn gewesen sein – oder wenigstens eine Gaskammer sei doch zu besichtigen. Nein. Das gibt es hier nicht. Enttäuschung auf Gesichtern.

Manchmal, dort im Lokal kamen Nachfragen es gab Ungereimheiten. Die Wirtin reagierte unwirsch. Schnappte zu. Sie wollte doch unterhalten. Wollte die Menschen um sich haben, denen ihr Essen jetzt besser schmeckte als vorher. Das Essen, das nun das Gewürz von Auschwitz hatte, so wie sie es trug. Die Rezepte in der Küche aber blieben gleich.
Sie begann die Geschichten auch in anderen Städten zu erzählen. Plötzlich lud man sie sogar ein, in andere Städte, andere Lokale. Auch dort sollte sie kochen mit ihren Geschichten. Es schmeckte doch so gut. Plötzlich war sie interessant, nicht nur für die Lieferanten und die Rechnungen. Da war etwas Neues, Aufregendes. Ihre Küche wurde ausgezeichnet, Sternchen zierten nun das Schild des Lokals. Doch die, die irgendwas seltsam fanden, sie gingen nicht weg. Sie beharrten darauf, dass ein Gewürz fehlte im Essen und den Geschichten. Sie schauten in die Töpfe und in das Leben der Wirtin. Die Wirtin beschloss, ihren Geschichten Wahrheit zu verleihen, öffentlich. Fuhr ins Archiv und füllte die Bögen mit ihren Geschichten. Sie sollten Ruhe geben, die Zweifler, die Nörgler. Vielleicht glaubte sie selbst ihre Geschichten. Eigentlich wollte sie doch nur kochen. Doch das Lokal mit den wenigen Menschen, sie wollte es nicht mehr. Sie wollte und konnte nicht mehr zurück. Es war so schön dieses Leben.

Irgendwann stand ein Artikel in einer der großen Restaurantzeitschriften. Ein Artikel, der nachwies, die Küche sei nichts wert, die Wirtin sei schließlich keine Enkelin von Auschwitzopfern. Es sei ganz normale Hausmannskost, wohlschmeckend zwar. Doch ohne dieses Gewürz beliebig. Der Zeitschrift folgten Zeitungen, Journale und Blogposts. Alle wussten immer schon alles, alle waren schon immer kritisch und alle haben es nie geglaubt. geschmeckt hat es schon gar nicht.

Alle aber haben die Nähe gesucht, die Nähe zur Sauberkeit, zum Grusel und alle echauffierten sich, dass die Wirtin da Andenken der Toten beschmutzen würde. Doch die Menschen, die man hätte fragen können, wurden nicht gefragt. Man hatte seine Meinung. Man weiß natürlich, wie sich die Menschen fühlen, die die Kinder sind von jenen, die umkamen in Auschwitz, Treblinka, Dachau… . Sie wissen alles, so wie es auch die Wirtin dachte zu wissen, so wie sie es erlog, erlog auch die Blicke des Verstehens. Jetzt war sie da, die Enttäuschung auf den Gesichtern, Gesichter die zu Fratzen wurden. Gesichter die sich teuflisch nannten, während sie doch nur eines wollte: die Wünsche der Gäste im Lokal erfüllen.


Manch einer definiert sich über die Frage, wer die Ahnen waren im Krieg. Manch einer will es nicht wissen und manch einer wieder sucht die Nähe zu jenen, die „sauber“ erscheinen. Sauber vom Manko der Tat? Sie suchen die Nähe zu jenen, die so wenig wurden. Es ist ein seltsames Streben, ein seltsames Sehnen. Das Restaurant der Enkelin von Auschwitzopfern wird besser besucht, der Blog der vermeintlichen Enkelin wird mehr gelesen, sie wird eingeladen und hochgehoben, das Buch mit falschen Erinnerungen wird Millionenfach verkauft, wie die vermeintlichen Hitlertagebücher reißenden Absatz fänden. Es ist diese merkwürdige Sehnsucht, die Menschen spüren, eine Sehnsucht, die sie selbst nicht wahrnehmen, die womöglich einem irgendwie normalen Verhältnis zwischen nichtjüdischen udn jüdischen Menschen in diesem Land entgegenstehen. Es ist diese merkwürdige Sehnsucht, die Dinge tun lassen, wie sie Marie-Sophie tat. Es ist diese merkwürdige Sehnsucht, die immer noch mehr und mehr und schlimmer und lauter und härter verlangt. Einfach reicht nicht mehr. Es reicht nicht, um die Dinge zu wissen, man will ihn spüren, den Schauer. Man geht mir der Jugendgruppe eine Strecke des Todesmarschs und lässt die Kinder an den Türen auf dem Weg um Essen bitten, auf das sie nachfühlen mögen, wie es gewesen sein mag, als Häftling diesen Weg gehen zu müssen. Nachfühlen, wie es sei, wenn man nicht weiß, ob man den nächsten Abend, den nächsten Tag, die nächsten Wochen leben wird. Nachfühlen wie es ist, wenn man weiß oder nicht weiß, ob die Familie noch lebt. Es ist diese merkwürdige Sehnsucht, die Menschen voller Energie die Städte mit Stolpersteinen versehen lässt und gleichzeitig den Hass auf den Straßen, gegenüber jenen, die nicht viel haben, gegenüber jenen, die nicht wissen, ob ihre Familien noch leben, dort, woher sie fliehen mussten. Es ist diese merkwürdige Sehnsucht, die einem Menschen mehr Kompetenzen zuspricht, weil man zufällig in eine Familie geboren wurde. Es ist diese Sehnsucht, die Menschen wie Marie machen, Menschen wie sie, die diese Sehnsucht, diese Wünsche erfüllen. Mit Geschichten aus Auschwitz, mit Tagebüchern von Diktatoren. Die Menschen jubeln, wollen Freunde sein, brüsten sich mit Beteiligung, mit Freundschaft, wenn sie merken, dass sie betrogen wurden und sie schreien und treten um so mehr, wenn sie merken, dass sie betrogen wurden. Dass sie ihren eigenen Wünschen aufsaßen. Die jetzt und dann alles wissen und wussten. Doch ist es nicht so, dass das Eine das Andere bedingt? Schon immer bedachte? Diese Sehnsucht, dieses Streben. Es ist diese Sehnsucht, die nun enttäuscht wurde und die sich ein anderes Ziel suchen wird, jetzt, wo das Lokal der Wirtin mit den Geschichten und dem besonderen Gewürz geschlossen ist. Die Menschen wollen irgendwohin. Wollen ihren Schauer behalten, erzählen von einem besonderen Restaurant, in das nicht jeder darf. Sie wollen wieder sagen:

„Ich kenne da ein Lokal, nicht ganz billig, aber die Großeltern der Wirtin sind in Auschwitz umgekommen.“

Ich hoffe, sie gehen an meiner Tür vorüber, schauen gar nicht erst durchs Fenster und klopfen nicht an. Hier gibt es keine Geschichten für diesen Schauer, diese Sehnsucht, keine Wirtin mit Großeltern in Auschwitz.

 


Es hat mich einiges Nachdenken gekostet, ob ich darüber schreiben will und wie. Ich wollte es nicht. Es ist privat. Nur einige wenige wissen um meine Gefühle. Ich schütte sie hier nicht aus. Wie ich sie auch sonst nicht hier ausschütte. Sie werden nichts dazu lesen von mir. Doch das, was ich nach dem Freitag abend  las, das Relationen annahm, die mir unverständlich sind und nicht zuletzt die Gespräche mit Chajm und unser Nachdenken, sein Text dazu, gaben den Anstoß dazu. Den Menschen mit denen ich sprach und schrieb in den letzten Tagen, gilt mein Dank, auch und besonders der einzigen Person, die fragte „Ich kann nur ahnen, wie Dich das mitnehmen muss, denn ihr kanntet Euch ja persönlich. Kann ich was für Dich tun?“ Ihr, Ralf und Chajm und S. und J. für Euch würde ich kochen, wenn ich es könnte.


Foto: Juna Grossmann, Gedenkstätte Ravensbrück, 2015

9 Kommentare

  1. Nico Nico

    Danke für diese Gedanken, für das Mit-in-die-Verantwortung-Nehmen.

  2. G. Mair G. Mair

    Leider ist die Geschichte der Wirtin noch nicht zu Ende, denn nun versucht die Wirtin in einem Land, in dem sie bis jetzt noch keine Lokale hatte, ein Lokal mit den selben, falschen Gewürzen aufzuziehen.

    Wenn jemand die Wirtin fragt, wie es denn sein könne, dass sie in einem anderen Land bereits als „Falsche Köchin“ ertappt wurde, beteuert sie, dass dies nicht stimmt und alles nur eine Verschwörung gegen Sie und ihre echten Gewürze sei.

    Beweis:
    http://trinitynews.ie/2019/06/trinity-phd-graduate-accused-of-inventing-holocaust-victims/

    • Nun, Ihre Herleitung ist doch recht weit hergeholt. Diese Dinge, die sie dort machte, hat sie auch in den hiesigen Medien gesagt. Was ist daran neu? Nichts. Wir wissen nicht, was sein wird und wir wissen auch nicht, was ist. Wird sie einen neuen Blog öffnen, vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Würde das System und die Reaktionen dort ähnlich funktionieren. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Mutmaßungen und Unterstellungen sind keine Antworten. Denn die haben wir nicht und werden sie vermutlich auch nie haben.

  3. Anna Mathilde Anna Mathilde

    Vielen Dank für diesen wunderbaren und klugen Text!
    Ich selber denke auch schon etliche Jahre auf den Fragen herum, die Sie hier und in Ihrem Wuttext vom 20. Mai (Aneignungen: Rituale, Stahl und Stein) aufwerfen – und finde keine Antworten.
    Kann das überhaupt gelingen, dass sich in Deutschland Juden und Nicht-Juden „normal“ begegnen? Dass die Lust am Schauer irgendwann nachlässt?
    Ich zweifle.

  4. Danke für diesen Text und die vielen Denkanstöße darin.
    Für mich war es nicht diese Art von Gewürz, die mich ihre Texte genießen ließ, denn als ich begann bei ihr zu lesen, war dieses Thema noch nicht so präsent wie es später wurde.
    Ihre poetische Art zu schreiben war es, die mich sehr tief berührte. Das hatte nichts mit Grusel, Rechtfertigung, dem schrecklichen Morden, Zerstörung, dem mörderischen Leid und Hass, Vernichtung zu tun, erst recht nicht mit einer Lust daran. Ich mochte Menschen noch nie nach ihrer Geburt beurteilen, das ist mir einfach sinnlos.
    Ich wurde nicht misstrauisch, ich las bei ihr, ich kannte sie nicht näher, ich nahm ihre Worte mit mir, wenn ich sie fand. Mal sehr tief, mal nur sehr damit beschäftigt.
    Das, was vor einer Woche aufgedeckt wurde, macht mich noch immer sprachlos. Weil ich es nicht verstehe, keinen Ansatzpunkt dafür habe. Ich kenne wieder Sie noch sie, ich kann nur für mich sprechen. Das alles ist so unsäglich wie unfassbar schmerzvoll und grauenhaft auf so unglaublich vielen Ebenen.
    Es tut mir sehr leid für das, was es nicht nur für Sie persönlich bedeutet.
    Herzlichst, Ev

  5. Liebe Juna, tatsächlich habe ich mich gefragt, wie es Dir mit dieser Sache geht. Dich danach zu fragen, habe ich mich aber nicht getraut. Die Frage schien mir allzu indiskret. (Außerdem stehe ich ja aus persönlichen/privaten Gründen der Demoiselle nicht gerade positiv gegenüber. Ich wollte nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen.)

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