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Aus anderer Feder: Ich darf nicht behaupten, dass das, was ich hier beschreibe, wirklich passiert ist

Vor einer Weile bekam ich einen Brief. In einem Interview zum Jahresbeginn versuchte ich, Menschen zu ermutigen, die Geschichte ihrer Familie aufzuarbeiten. Ich weiß, wie schwer das nicht. Nicht nur technisch, menschlich passiert so viel. Prominente Beispiele zeigen, dass sie brechen mussten mit ihren Familien. Dennoch gibt es eine Chance, jetzt Generationen „danach“, es zu versuchen. Es braucht sehr viel Kraft, Wille sich den Dingen zu stellen. Sich einzugestehen, dass eben doch nicht jeder Widerstandskämpfer oder gänzlich unbeteiligt war. Es tut weh. Es ändert unter Umständen das Bild der geliebten liebevollen Großeltern. Es kann aber auch eine Befreiung sein. Ich wünschte, Archive und Museen würden offensiver sein, hätten die Kapazitäten „ganz normale Menschen“, nicht nur Fachpublikum bei ihrer Spurensuche zu unterstützten. Ich glaube, dass dieser Schmerz, dieses „sich stellen“, ein Schritt weiter sein kann.
Doch was ist mit den Menschen, die anders aufwuchsen? In denen nicht so getan wurde, als wäre man unschuldig? Als hätte all das ohne das eigene Zutun und Wegsehen stattgefunden? Was kann mit den Kindern geschehen? Ich hoffe, ich handle im Einverständnis der Schreibenden, wenn ich ihre Worte hier, so, wie sie mir schrieb, veröffentliche. Ich habe am Text nichts geändert, es handelt sich hierbei nicht um meine Sichtweisen. Dennoch ist es eine Stimme, die gehört werden sollte.
Bei einem Erinnerungs-Workshop stellte ein Historiker die These auf, Deutsche hätten zwar eine öffentliche Aufarbeitungskultur, würden jedoch ihre Geschichte nicht in Verbindung mit der eigenen Familie bringen. Statt wichtige Fragen zu stellen wie etwa, warum die Menschen, die ihre Familie hinterfragen,  in der Aufarbeitung nicht vorkommen und wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht, wurde einfach gefolgert, es gäbe diese Menschen nicht. Noch nicht einmal, warum es sie anscheinend nicht gibt, wurde gefragt. Deutsche wachsen in fürsorglichen Familien auf, besuchen Schulen, machen Karriere, erben und erst dann kommen ihnen Fragen in den Sinn. Wie glaubwürdig ist eine solche Ahnungslosigkeit? Oder muss man sich vielmehr naiv stellen, wenn man zur deutschen Gesellschaft dazugehören will?
Die Erinnerungskultur hat den Mythos erschaffen, wir könnten offen über unsere Erlebnisse sprechen, ohne dass die Täter zurückschlügen.  Sie kreierte das Bild des harmlosen Nazis. An den Schulen unterrichten wir Geschichte und schicken die Kinder dann nach Hause, um den Holocaust aufzuarbeiten.
Ich bin Generation „Nie wieder“. Solange ich mich erinnern kann, wurde von mir gefordert, Antisemitismus zu bekämpfen. Im Kinderfernsehen sah ich das Elend des Krieges. Ich wuchs auf mit den Geschichten meiner Mutter von Flucht, Massenvergewaltigung und Hunger und mit dem Hass meines Vaters auf die Siegermächte, deren Geschichtsschreibung er für eine Fälschung hielt. Als ich von Anne Frank erfuhr und sie erwähnte, empörte er sich. Sie war doch von allein gestorben. Was konnten die Nazis dafür? Alle Länder hatten Konzentrationslager gehabt und dort waren Deutsche verhungert. Überhaupt hatte Deutschland ja Frieden gewollt, aber die Alliierten nicht. Die Welt würde noch zugeben müssen, dass Adolf Hitler recht hatte. Wir Kinder sollten  Antisemitismus nie wieder zulassen, also widersprach ich. Natürlich endete die Sache nicht gut für mich. Mein Vater war ein erwachsener Mann, ich war 7.
Anfangs spielten die anderen Kinder mit mir. Aber die anderen Kinder hatten eine Zukunft. Ihre Familien planten ein gutes Leben für sie. Mein Vater wollte mir beweisen, dass Deutschland ihm gehörte und nicht mir. So lernte ich schon früh, dass ich aus eigener Kraft Leistung bringen musste, weil es keine Unterstützung gab. Auf unheimliche Weise setzte die Schule der Erziehung meines Elternhauses nichts entgegen, sondern komplettierte sie. Als das Gymnasium mich akzeptiert hatte, war ich gesund, später wurde ich jedoch krank.  Nicht nur, dass ich mit meinem Vater konkurrieren musste, obwohl ich ein Kind war, ich galt auch als Minderleister, weil ich krank geworden war. Ich wurde nun sowohl zuhause als auch in der Schule ausgegrenzt. Ausserdem gelang es mir nicht, das Verhalten der Erwachsenen zu verstehen. Einerseits wurde ich dazu angehalten, Antisemitismus zu bekämpfen, andererseits wurde ich dafür abgelehnt. Mein Vater wurde zwar auf seine Reden angesprochen, aber wenn ihn jemand fragte, ob er Nazi sei, antwortete er: „Nein.“ Den meisten Erwachsenen fiel gar nichts auf. Mit einem Nazi am Frühstückstisch zu sitzen und täglich diese Bedrohung aushalten zu müssen, war anscheinend das normalste von der Welt. Schliesslich war ich so verunsichert, dass ich stumm wurde. Ich sass jahrelang mucksmäuschenstill im Klassenzimmer und schwieg. In den Pausen versteckte ich mich, weil ich das Mobbing nicht mehr aushalten konnte. Es kümmerte niemanden, dass ein Kind so verängstigt war, dass es sich tot stellte. Ein Arzt empfahl meinen Eltern, mich mit einem Stock zu schlagen. Ich gehörte nicht zu den Deutschen  dazu. Wäre es anders, würde mir ja jemand helfen. Stark müsse man sein, meinte mein Vater,  und versuchte, mich zu Gewalt anzustacheln. Bei einer Kinderschutz-Hotline versicherte man mir, ich hätte keine Probleme. Ich nahm an, alle Kinder würden zuhause wie Verräter behandelt und nur ich würde mit meinem Nazi-Vater nicht fertig. Ich schämte mich und fühlte mich schuldig, weil ich ein Versager war. Dass ich jahrelang völlig isoliert und ausgegrenzt war, hielt ich für gerecht. Ich war desorientiert und verwirrt. Die Erwachsenen hatten mich gebrochen.
Meine Eltern schrieben mich an der Uni ein, aber ich war am Ende meiner Kräfte und kollabierte. Ich durchlief den gesamten Hilfsapparat. Dass ich versuchte, mich aus der Kontrolle meines Vaters zu retten, wurde mir negativ ausgelegt.  Immer klärte man mich über seine Rechte auf, nie über meine. Mein Vater galt als Privileg. Was war eigentlich mein Problem? Ich wusste es selbst nicht mehr. An diesem Punkt verlor ich jeglichen Einfluss auf mein Leben, weil es niemanden gab, der die Möglichkeit, dass ich in Not war, eingestehen wollte. Später erklärte mir ein Psychologe, ich hätte meinen Vater falsch verstanden und solle mich einweisen lassen.  Mir wurde vorgeworfen, nichts beweisen zu können. Obwohl Erwachsenen Beweise so wichtig waren, erklärten sie mir nicht, wie ich sie sammeln konnte. Sie suchten auch nicht danach. Ihre Behauptung, es gäbe keine, vertuschte alles. Das Gerede von der Justiz schüchterte mich ein. Ich fühlte mich wie ein Verbrecher und fürchtete mich ständig vor Strafe. Vor den Stellen, die mir eigentlich helfen sollten, hatte ich immer angst. Obwohl mein Vater die Kontrolle über meine Ausbildung und deren Finanzierung, über meinen Zugang zu Wohnraum und zu medizinischer Versorgung hatte, wurde mir eingetrichtert, ich hätte gar keine Probleme. Der Konflikt war ja meine Schuld.
2015 erlebte ich ungläubig, mit welchem Jubel Deutsche eine Million Menschen aus antisemitischen Ländern aufnahmen. Während ich an der Konfrontation mit meinem Vater gescheitert war, hielt die Mehrheit es für ein Kinderspiel, Antisemitismus zu besiegen. Das schwärzeste Trauma Deutschlands war jetzt eine bedeutungslose Bagatelle, gänzlich vernachlässigbar. Als ich verdächtigt wurde, jüdisch zu sein, begriff ich, wie entfremdet ich war. Mein ganzes Leben fand im Zwielicht statt, weil die Gesellschaft meine Familiengeschichte ablehnte. Es gab keinen Schutzraum, der mir ermöglichte, zu reden und eine Lösung zu finden. Ich durfte zwar den Holocaust verurteilen, aber ich durfte nicht über meine Familie sprechen. Ich durfte meine Mitschüler, Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter und Pastoren nicht damit belästigen. Ich durfte keine Forderungen stellen an die Berufszentren oder die Uni. Wenn ich nie die Freiheit hatte, sprechen zu können und niemand zuhören wollte, wie sollte ich dann etwas aufarbeiten? Da war keine Aufarbeitung, da war nur Isolation. Warum war es so wichtig gewesen, mich auszugrenzen?
Antisemiten haben Rechte und diese Rechte werden geschützt. Kinder haben jedoch keinen Schutz. Alles, was ich mit 7 in Anspruch nahm, war mein Recht, Adolf Hitler als meinen Führer abzulehnen. Dieses Recht hat niemand geschützt. Niemand hat mich verteidigt oder mich über meine Möglichkeiten informiert. Niemals sagte jemand zu mir: „Wir verstehen dich. Durch die deutsche Vergangenheit kommt es öfter zu Konflikten in der Familie.“  Mit meiner Not blieb ich völlig allein.
Der schönste Tag in meinem Leben war für mich als die Bild die Antisemitismus-Doku zeigte, die arte verbannt hatte. Sie brach das Tabu und zeigte aktuellen Antisemitismus mitten in unserer Gesellschaft- und auch als Schönheitsmakel am deutschen Flüchtlimgsmärchen. Sie porträtierte einen Antisemitismus mit Antisemiten, statt des sonst üblichen Phantoms. Es war das einzige Mal, dass meine Realität von anderen anerkannt wurde. Ich war voller Hoffnung. Manchmal können Probleme nicht durch die Justiz gelöst werden, sondern man muss innerhalb der Gesellschaft Raum schaffen, um Machtstrukturen zu überwinden. Daran zeigte Deutschland kein Interesse. In einem öffentlichen Tribunal wurden die Journalisten als Berufsversager abgestempelt und die Redakteurin in den Ruhestand geschickt. Der pädagogische Effekt war deutlich: Wir rufen euch zum Reden auf und zeigen euch auch gleich mal, was wir dann mit euch machen. Angela Merkel erzählte in einem Podcast einmal, wir sollen Antisemiten einfach sagen, dass wir keinen Antisemitismus wollen. So leicht ist die Antwort auf AfD und Islamisten. Sie glaubt, sie schafft das. Ich habe es nicht geschafft.
(Ich darf nicht behaupten, dass das, was ich hier beschreibe, wirklich passiert ist.)

Ein Kommentar

  1. Ignaz Ignaz

    Dass sich inzwischen diese Kollektivschuld z.B. auch in den Geschichtswissenschaften verbreitet hat, finde ich schon irgendwie seltsam.

    „Deutsche hätten zwar eine öffentliche Aufarbeitungskutur…“ Eben, das Land hatte damals 75 bis 80 Mio. Einwohner, von dnenen einige Hunderttausend (inkl. ausländischer Freiwilliger) in der SS waren und Verbrechen begangen; das sind unter 1%.

    Also wird man bei einer vermeintlichen „Aufarbeitung in den Familien“ mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht viel finden! Nach oben offenbarter Erkenntnis jedenfalls in 99% der Fälle nichts! ;-)

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