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Aneignungen: Rituale, Stahl und Stein – ein Wuttext

Jedes Jahr im Frühjahr ist Hochsaison der kulturell/religiösen Aneignung jüdischer Rituale und Feiern. Kein deutsches Phänomen, scheint die „Sehnsucht“ einen Seder zu feiern bei vielen Christen weltweit groß zu sein. Mangels Einladungen zum jüdischen Seder oder schlicht mangels Juden ist man auf die großartige Idee verfallen, es einfach selbst „wie Jesus“ nachzuspielen. Was daran falsch ist und welche Blüten es treibt, hat Chajm sehr schön in seinem Post „Sederabende in Kirchengemeinden“ beschrieben. Ich werde hier nicht weiter darauf eingehen. Chajm hat alles dazu gesagt, was es zu sagen gibt.

Aneignungen, nicht nur im rituellen, passieren auch immer wieder im jüdischen Museum Berlin statt, Besucher finden die Skulptur Shalechet von Menasche Kadishman so anregend, dass sie immer wieder Teile mit nach Hause nehmen, tausende sind so verschwunden. Man darf sich fragen, was Menschen damit bezwecken. Wie sie sich fühlen einen Teil einer Skulptur, die an den Mord an Millionen Menschen erinnert, im heimischen Bücherregal zu haben. Doch es geht noch weiter, Menschen gehen noch weiter. Sie stehlen Steine in Gedenkstätten, sie stehlen Steine von Krematorien in Auschwitz und sind stolz auf ihren Besitz seit Jahrzehnten. Was geht in diesen Menschen vor? Müssen sie kompensieren, dass sie keine Familie haben, die dort durch die Öfen gingen? Was kompensieren sie mit dieser unfassbaren Respektlosigkeit den Orten und Menschen gegenüber, die ihnen verbunden sind? Was würde eine professionelle Analyse ergeben? Kompensation?

Was spricht dagegen, die gestohlenen Steine den Orten still wieder zu geben, die Geschichte dorthin zu bringen, wohin sie gehört? Ist es nicht eine Fortführung der Aneignung jüdischen Besitzes, eine Fortführung der Gefühllosigkeit, mit der man sich schon Haus und Hof der einstigen Nachbarn aneignete? Die Fritz Schroths dieses Landes sollten sich schämen. Sie sollten sich schämen dafür stolz auf den Diebstahl des Steines zu sein, sie sollten sich schämen, sich Rituale anzueignen, die nicht die ihren sind. Sie geben vor, gegen Antisemitismus einzutreten, und tun doch eines: Juden übergehen, sie machen sie mit ihrer Aneignung überflüssig und fühlen sich wohl im geschenkten Tallit, einem rituellen Symbol, der eine Bedeutung hat für jüdische Menschen. Seinen Tallit, egal ob liberal oder orthodox, zu erhalten ist verbunden mit Dingen, verbunden mit Lernen, verbunden damit die Mizwot auf sich zu nehmen, ein Tallit verbindet mit den Wurzeln, mit den eigenen, nicht mit dem der anderen. Was mein Tallit für mich ist, habe ich hier versucht zu beschreiben. Zu sehen, dass sich nichtjüdische Menschen dieses Stück Stoff, das so viel in sich trägt, aneignen, um jüdische G’ttesdienste nachzuspielen, verletzt, verletzt tief und zeugt wieder von großer Respektlosigkeit gegenüber des angeblich so geschätzten „älteren Bruders“. Sie sollten es besser wissen und verletzen damit bewusst die religiösen Gefühle. Bei Ansprache darauf durch Juden hochmütig reagieren, zeigt, dass Sie nichts verstanden haben. Sie erheben sich über Menschen, über denen Sie nicht stehen.

Es macht mich wütend von solchen Dingen zu hören. Es macht mich noch wütender, wenn diese Menschen kein Einsehen haben, versucht ein jüdischer Mensch ihnen gegenüber seine Irritation zu äußern. Arrogant ist dann von den Umständen die Rede, die man doch verstehen müsse und man bedauerte es lediglich, dass ein Bild davon in die Presse kam. Ein Einsehen aber ist nicht gegeben, weder zum Stein, noch zur Aneignung. Es geht nicht darum, dass etwas als übergriffig empfunden wird, es geht darum, dass es übergriffig ist. Haben Sie schon einmal von Muslimen gehört, die, weil es so schön klingt, das „Vater unser“ zu sagen. Klingt absurd, oder? Das ist es auch. Haben Sie schon von Juden gehört, die das Abendmahl feiern?* Klingt absurd, ist es auch. Offensichtlich scheint es aber nicht absurd zu sein, jüdische Rituale zu übernehmen, weil sie gerade so schön sind oder eben, weil es doch den Umständen geschuldet ist. Es gibt Grenzen. Die Grenze wurde nicht nur hier überschritten. Vertrauen kann so, mit diesem Drang, durch religiöse Aneignung letztlich jüdische Menschen mit ihren Ritualen, d.h. das Judentum an sich, überflüssig zu machen, nicht aufgebaut werden. Wir sollen uns respektieren, wir können einander auch Gutes wünschen, wir können und sollen fragen, wenn wir etwas beim anderen nicht verstehen, doch Übergrifflichkeiten, Aneignung von Ritualen und Dingen, sie führen nicht zu Vertrauen, sie führen zum Gegenteil. Vielleicht waren wir zu lange still, vielleicht haben wir zu lange geschwiegen, waren froh, dass jemand wenigstens nicht gegen Juden predigt…

Sie wollen einen Tallit tragen und in ihm beten? Sie wollen einen Seder abhalten? Sie wollen Schabbat- und Hanukkakerzen zünden? Werden Sie Jude, machen Sie auch die anderen Dinge wie Fastentage, koschere Ernährung, Beschneidung und alles, was nicht so romantisch schön erscheint, mit, sonst lassen Sie es.

 


* Danke der @pressepfarrerin für dieses Beispiel.

Dankbar bin ich für jene, die fragen, ob ich etwas tun würde, einen Segen des Klangs wegen spreche und die akzeptieren, dass ich es nicht tue, dankbar bin ich auch für die, die unbedacht anderer Religionen Dinge von mir erwarten und ebenfalls akzeptieren, das ich das nicht tun werde. Das ist für mich gelebte Interreligiosität.

Foto: Gedenkstätte Ravensbrück, Juna Grossmann, 2015


 

2 Kommentare

  1. Alexander Alexander

    Ich möchte schon im Voraus mich entschuldigen, dass ich wieder nur die super-duper-infra-ultra-orthodoxe Sichtweise benennen kann. Bereits in der Mischna (https://www.sefaria.org/Mishnah_Berakhot.8.8) wird der Fall angesprochen, dass ein Nichtjude eine Beracha, einen „Segensspruch”, ausspricht. (Ja, ja, in der verlinkten Fassung sagt der Text kuti bzw. Samaritaner, aber das ist der Zensur zuzuschreiben. Viele „Nichtjuden” sind in zensierten Ausgaben zu „Planeten- und Sternzeichenanbetern”, zu „Samaritanern” und sonstigen Umschreibungen geworden.) Nicht nur, dass dieser Fall vorkommt (und ich vermute nicht, dass von einem Nichtjuden die Rede ist, der sich auf die Konversion vorbereitet), er hat auch noch eine ausgesprochen elegante Lösung: Sofern die ganze Beracha zu hören war, insbesondere der anfängliche (und, sofern vorhanden, schließende) Gottesname, so ist die Absicht des Nichtjuden klar, nämlich, sich bei Gott für etwas zu bedanken oder ihn für etwas zu loben. Andernfalls wird unterstellt, dass er die jüdische Beracha nutzt, um seinen Götzen zu loben. Aus Sicht der Rabbiner dieser Mischna ist also klar, dass ein Nichtjude das Bedürfnis hat, sich einen jüdischen Segen anzueignen und für seine eigenen Zwecke zu nutzen oder sogar den jüdischen Zweck zu verfolgen. Und niemand kommt auf die Idee, ihm zu sagen, es sei kulturelle Vereinnahmung und daher unschicklich.

    Natürlich sind die Fälle völlig unvergleichbar. Höchstwahrscheinlich bezieht sich diese Mischna nicht auf Christen, die aus besser nicht genauer benannten Gründen meinen, sie müssen gewisse jüdische Rituale nachahmen. Dennoch kann man die Idee ernst nehmen und sich überlegen, ob man weniger wüten und mehr verstehen will. Oder vielleicht sind die Fälle doch zu verschieden und die Wut angemessen.

    • Ich finde es gut, dass Sie die „super-duper-infrag-ultra-orthodoxe Sichtweise“ beitragen. Danke dafür. Ich hatte auch an die Stelle in der Mischna nachgedacht (danke übrigens fürs Verlinken bei Sefaria, ich wollte noch darüber schreiben) darüber gelesen und nachgedacht. Ich kam allerdings nach längerem Nachdenken nicht zu dem Schluss, dass es hier passt. Ich sehe doch einen Unterschied, es geht weniger um eine Bracha, still für sich gesprochen und ehrlich gemeint. Es geht um einen (professionellen) Christen, der etwas darstellt, was er nicht ist, sich damit brüstet und zudem leider und dazu konnte ich nicht allzuviel schreiben, geradezu unverfroren auf Kritik reagiert. Das hat nun ein paar Wochen an mir genagt und musste wohl raus.

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