Noch drei Jahre. Noch drei Jahre musste sie durchhalten. Das Gängeln des Amtes, für das sie die unsinnigsten erniedrigenden Jobs übernahm, damit sie die Leistungen nicht kürzen. Sie war Lehrerin – eigentlich. Ohne Widerspruch hat sie all das gemacht. War verzweifelt, amüsiert, resigniert. Hat sich verloren. Irgendwie wiedergefunden. Nur noch drei Jahre. Und dann? Dann reichte das Geld weiter nicht, aber wenigstens kann sie dann selbst entscheiden, wie sie dazu verdient. Konnte über ihre eigene Zeit verfügen. Als Rentnerin würde sie nicht mehr Teil der Statistik sein. Das alles wegen ihrer Liebe vor langer Zeit. Und ihrer Ehrlichkeit.
Sie ist gefragt worden, warum sie ehrlich war. Was für eine Frage? Warum ist man ehrlich? Weil man ehrlich sein muss. Weil sonst das System nicht funktioniert, das System des Miteinanders, wenn sich alle belügen und betrügen? Warum ist sie ehrlich gewesen? Weil sie es einst nicht war. Ein Mal, ein einziges Mal. Wegen ihm. Weil sie liebte. Weil sie mit ihm sein wollte und man sie nicht ließ.
Damals an der Uni. Er war ihr aufgefallen. Sofort. Ein schöner Mann, wie man sie selten sah. Besonders da im Norden der DDR. Er war exotisch mit seinem dunklen Teint, seiner schlanken großgewachsenen Gestalt. Die Frauen lagen ihm zu Füßen. Vielleicht auch die Männer.
Am der kleinen Universität war er bekannt. Er hatte ein Stipendium im Bruderland DDR erhalten. Man sah sich ab und an. Was haben die Studenten der Technik schon mit jenen der Kunst zu tun. Arbeiten waren zu schreiben. Bilder zu malen. Sie kämpfte noch immer mit der Pastellkreide. Wie konnten Menschen nur freiwillig damit arbeiten? Sie musste aber etwas abliefern. Irgendwie das Thema hinter sich bringen. Am Wasser, vielleicht da. Mit der Mappe ging sie los, den kleinen Klapphocker nicht vergessen. Wieder brach die Kreide. Jemand setzte sich neben sie. Schaute schweigend zu. Es war N. er blieb. Sie schwiegen. Gingen im Dunkeln zurück zum Studentenheim. Blieben zusammen die nächsten Jahre. Der Abschluss kam. N. musste zurück in die Heimat. Sie erwarteten ein Kind. Also heiraten. Einfach zusammen sein. Es gab kein einfach in diesem Land. Nicht für sie.
Sie saß im kleinen kahlen Büro. N. musste vor einem Monat den Zug in den Süden besteigen. Blumentapeten in Orangebraun. Graue Telefone. Gardinen, Lochmuster. Braune Vorhänge. Ein Raum in Plastik. Seltsam. Sie erinnerte sich nur noch an den Raum. Nicht an den Mann. An die Gefühle. Die ersten Bewegungen des Kindes, wenn er sie anbrüllte, auf sie einredete, wie der Speichel in Zeitlupe flog wenn er ihr ihre Alternativen ausmahlte. N. hatte sie nie davon erzählt. Sie wollte nur mit ihm sein. Am Ende der Tage in diesem Raum stand ein Blatt Papier, auf das sie das ihr Diktierte schrieb „Verpflichtung. Ich erkläre hiermit künftig inoffiziell unter der Wahrung der Konspiration mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten…“ Noch heute hämmerten die Worte in ihrem Kopf. Die Gegenleistung war die Heiratserlaubnis und die Ausreisepapiere für sein Land. Sie denkt zurück. Die ersten Jahre des Glücks. Die auferlegten Kontakte wurden seltener. Sie arbeitete nicht zufriedenstellend. Selbst wenn sie gewollt hätte. Es gab nichts zu erzählen. Sie führten ein einfaches Leben. Nach ein paar Jahren meldete sich niemand mehr. Sie wurde entlassen.
Die Mauer fiel. N. wollte wieder nach Deutschland. Jetzt durften sie dort leben. Vielleicht war es der Versuch wert. Die Ehe retten. Eine bessere Ausbildung für den Sohn. Sie wurde schnell wieder als Lehrerin für Kunst angestellt. Ein Land löste sich in seine Fasern auf, verknüpfte sich mit einem anderen. Der öffentliche Dienst wurde überführt. Personalbögen waren auszufüllen. Fragebögen zu beantworten. „Haben Sie als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR“ gearbeitet?“. Der Raum in Plastik tauchte auf. Der graue Mann, der auf sie einredete. Kein Gesicht mehr. Nur Gefühl. Die Entscheidung: allein mit dem Kind in der DDR bleiben und ihre Liebe nie wieder sehen…Es rauscht im Kopf. Das Rauschen wird laut. Kreuz bei „Ja“.
Einen Monat später saß sie im Arbeitsamt. Sie war aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Mit Freunden und Bekannten schon längst darüber gesprochen, lange vor den Fragebögen. Sich erklärt. Sie wollte reinen Tisch machen. Es waren zu viele unter ihnen, die einst bespitzelt wurden, im Gefängnis saßen. Gelitten haben. Keine Geheimnisse. Sie fragten sie: „Warum hast Du nicht gelogen? Die haben Dich erpresst.“ „Ich habe einen Fehler gemacht. Ich werde dafür bezahlen. Das ist richtig so.“ Nie hat sie gesagt, sie habe niemandem geschadet. Woher sollte sie das wissen? Woher sollte sie wissen, was die aus dem machten, was sie ihnen erzählte? Selbst wenn es wenig war. Nie wieder lügen. Nie wieder erpressbar sein. Ein kleines Stück Freiheit.
Sie saß vor einer Leinwand allein in ihrer kleinen Wohnung. N. hatte sie schon lang verlassen. Die Kunst konnte ihr keiner nehmen. Vielleicht hätte sie bald wieder mehr Zeit. Im Radio ein Bericht über einen Mann, der gelogen hatte. Mehrfach. Kein Bedauern. Kein Reflektieren. Er wird nicht entlassen. Man solle Mitleid mit ihm haben. Leise schüttelt sie den Kopf und setzt den Pinsel auf.
Nachtrag: Sie hat ihr Leben nicht leben können, kam nie mehr auf die Beine.
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