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Die Bücher des Sommers 2023

Etwas ist anders in diesem Sommer, der so zerrissen erscheint. Zerrissen, so wie das ganze Jahr sich nicht anfühlt, als würde es ankommen und schon in einem Monat ist es wieder Vergangenheit. Und doch gab es diese Momente der Lesezeit überhaupt, es gab Ruhe und bemerkenswert ganz und gar: Konzentration. Also doch alles nicht so arg wie befürchtet. Die Bücher nun in also der Reihenfolge des Lesens:

Helena Janeczek: Das Mädchen mit der Leica

Die Bücher des Sommers 2023

Fotografie, klar bin ich interessiert. Noch interessierte an Gerda Taro, der Partnerin Robert Capas, die lange übersehen nun immer mehr ins Blickfeld gerät. Fotografien, die einst Capa zugeordnet wurden, tragen inzwischen ihren Namen. Es ist der Klassiker der Geschichte einer Frau, die vergessen wurde – fast.
Helena Janeczek beschreibt in ihrem fiktiven Roman mit Anteilen historischer Fakten das Leben Gerda Caros – nun ja, vielleicht auch nicht so richtig. Aus den Perspektiven William Chardacks, Ruth Cerfs und Georg Kuritzkes beschreibt die Autorin Teile des Lebens Taros und geht damit ein doppeltes Wagnis in einem Mal realen, mal erdachten Text ein. Anders als wohl die meisten Rezensenten ist es genau das, was mich leider stört. Man lernt sehr viel über die besagten drei Personen, was sehr interessant und lehrreich ist – aber wenig über Taro selbst. Nun ist es mit Sicherheit so, dass es über jene mehr Belegbares gibt als über sie, doch wurde sie mir eher zur Randerscheinung. Selbst Capa seht teilt mehr im Vordergrund.
So ist das Buch ein interessanter Roman über seine Zeit, den man durchaus empfehlen kann, hat man nicht allzu viel Interesse an der Person Gerda Taros. Am Ende des Buches weiß man in etwa soviel über sie wie zu Beginn, wenn man sich etwas für Fotografiegeschichte interessiert.
Die Schreibweise/Übersetzung ist mitunter etwas umständlich. Sehr oft überlegte ich, das Buch wegzulegen. Das Interesse an den drei eigentlichen Protagonist:innen hielt mich dabei – allerdings nicht immer sehr leseentspannt.

352 Seiten
Berlin Verlag/ Piper
ISBN 9783827013989/ 978-3-492-31785-6
€ 22,00/ 12,00 (D)
Erscheinungsdatum: 2020/ 01.07.2021

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

Die Bücher des Sommers 2023

Das erste Buch des sehr bekannten Schauspielers Edgar Selge bekam mich mit auf eine Reise und dachte nicht, dass ich es lesen würde. Ich tat es doch und wurde entführt in die ersten Nachkriegsjahrzehnte in der westdeutschen Provinz nach Herford, wo Selge aufwuchs. In fesselnder Sprache gelingt es ihm, ein Bild zu malen zwischen den ersten Nachkriegsgenerationen, die beginnen, die Taten der Eltern im Nationalsozialismus zu hinterfragen und der tiefen westdeutschen Spießigkeit, die lieber schwieg und in alten Mustern verblieb. Eine fremde Welt, deren Kälte und Unsicherheit, aber auch Gewalt hinter geschlossenen Türen in Konventionen überleben kann. Darin ein Junge, der so anders ist – nicht, weil er wie die älteren Brüder rebelliert, sondern weil er die Dinge betrachtet, als wäre er nicht Teil von ihnen, weil er hinterfragt und verstehen will, warum Menschen handeln, wie sie handeln und schon hier den späteren Schauspieler findet.
Das Buch hinterließ eine Beklemmung über eine Zeit, die ich zum Glück nicht erleben musste – aber auch sehr viel Verstehen, wenn auch nicht Verständnis.

304 Seiten
Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-00122-3/ 978-3-499-00096-6
€ 24,00/ 14,00 (D)
Erscheinungsdatum: 19.10.2021/ 14.03.2023

Brigitte Reimann: Die Geschwister

Die Bücher des Sommers 2023

Im Überraschungsbuchpaket der Büchergilde Gutenberg befand sich in diesem Jahr die Neuauflage des ursprünglich 1963 erschienen Buches über die Konflikte sich doch eigentlich sehr verbundener Geschwister und die deutsche Teilung, die sie auf verschiedene Seiten treibt. Das Besondere dieses Buches ist es aber, dass es kein reiner Neudruck ist, sonst eine Rekonstruktion des Originals, bevor die SED es weichspülte. Zwar mutet es noch immer erstaunlich an, dass es überhaupt erscheinen durfte – selbst in der entschärften Version, doch liest man es derart, dass die Protagonistin tatsächlich durch Verrat verhindern kann, dass auch ihr zweiter Bruder in den Westen geht, kann man es verstehen. Doch was ist, wenn man es nicht so liest?
Diese rekonstruierte Neuauflage war durch ein Ereignis bei Bauarbeiten in Hoyerswerda möglich gemacht, wo die Autorin einst lebte. Versteckt wurden Notizbücher gefunden, die sich als Originaltexte Reimanns entpuppten. In sorgfältiger Arbeit wurden diese transkribiert und zusammengefügt. Hier fanden sich auch Hinweise, welche Passagen offiziell gestrichen werden mussten. Ein beklemmendes Buch, in dem man die frische weniger technische und vor allem schreiberfahrene Sprache der damals noch jungen und viel zu früh gestorbenen Autorin spüren kann, ihr Nachdenken über ihre Zeit, auch ihre Verzweiflung und Hoffnung. Ein Zeitdokument trotz Fiktion. Gerade in der Reihenfolge nach dem Buch von Selge ein fast perfektes Paar über die Jugend in zwei Ländern, die eine Sprache und eine Geschichte teilten.

224/ 216 Seiten
Aufbau Verlag / Edition Gutenberg
ISBN 978-3-351-04204-2
€ 22,00 (D)
Erscheinungsdatum: 14.02.2023

Sibylle Grimbert: Der Letzte seiner Art

Die Bücher des Sommers 2023

Dieses Buch stieß mir im Buchladen ins Auge, es war anders, ganz in Leinen mit einem eigentümlichen Vogel, darauf stach es hervor. Eigentlich wollte ich nicht mehr herumschleppen, doch es musste mit und hielt mich gefangen. Beschrieben wird eine eigentümliche Beziehung, vielleicht auch Freundschaft des letzten Riesenalks mit einem Mann, der sein Leben der Erforschung und Beobachtung dieses Lebewesens widmete. Ein Versuch, den wieder genesenen Vogel bei den letzten wenigen Tieren auf einer Insel auszuwildern, schlägt fehl und so verbringt Prosp, wie er später genannt wird, sein Leben bei diesem Mann und seiner Familie. Was so simpel und wenig spektakulär erscheint, spricht eine Sprache, die auch jene erreichen könnte, die sich bisher wenige Gedanken über Artenschutz machten. Der Riesenalk ist durch die Menschen ausgerottet worden, wie so viele Tiere davor und danach – und doch ist er ein Wesen mit Eigenarten, einem Charakter und Launen, die Grimbert meisterhaft beschreibt, ohne ihn zu vermenschlichen. Ebenso gelingt es, die Verzweiflung angesichts des Endes einer Art, so intensiv fühlbar zu machen, dass es niemanden kalt lassen kann. Ein großartiges Buch über die Verbindung eines Menschen mit einem Vogel, das hoffentlich nachdenken lässt. Ich bin noch immer gefangen.

256 Seiten
Eisele Verlag
ISBN 9783961611683
€ 23,00 (D)
Erscheinungsdatum: 27.07.2023

Ralf Rothmann: Sterne tief unten

Die Bücher des Sommers 2023

Ich entdeckte Ralf Rothmann erst in besagter Buchhandlung, in der ich auch „Der letzte seiner Art“ fand. Es war eine größere Lesung geplant, so lagen einige Bücher Rothmanns zur Ansicht parat. Der Händler selbst schwärmte so sehr von der Sprache und auch sonst fand ich nur beste Rezensionen – also herangewagt mit nur einer kleinen Geschichte, die alles bestätigte.
Sterne tief unten spielt in Berlin, aber irgendwie auch nicht, es könnte überall sein, wo es einen einzelgängerischen Pfleger gibt und eine Pathologie, in die sonst niemand will – ja und einen Jungen, der ohne Vorurteile und mit Neugier auf Menschen zugeht. Eine wunderbare kleine Erzählung, die mich noch schlicht überzeugte.

52 Seiten
Insel-Bücherei 1382
ISBN 978-3-458-19382-1
€ 11,95 (D)
Erscheinungsdatum: 15.04.2013

Felix Heidenreich: Der Diener des Philosophen

Die Bücher des Sommers 2023

Wenn man sich schon von einem Vogel auf einem Cover überzeugen lässt, kann man auch nicht den anderen im selben Regal zurücklassen. Kein Riesenalk, dafür ein Schuhschnabel. Dieser findet tatsächlich kurz in dem kleinen Büchlein eine Erwähnung – etwas kurz allerdings, um es gleich ein Cover werden zu lassen. Doch es erfüllte seinen Zweck, ich kaufte es. „Der Diener des Philosophen“ soll ein Buch über Martin Lampe, dem Diener Emanuel Kants sein. Es verspricht eine etwas andere Sicht auf die Aufklärung, vor allem aus Sicht des nicht ganz so unterwürfigen Dieners. Geschrieben von Felix Heidenreich, der sich im Fach auskennt und wohl eher nebenbei Romane schreibt. Eine etwas längere Vorrede, denn ich bin zwiegespalten. Ich mochte das Buch sehr, das gleich vorweg. Doch verspricht es – ähnlich wie beim „Mädchen mit der Leica“ etwas, was es nicht ist: Lampe erscheint als Randfigur. Viel zentraler, aber vor allem kritisch wird Ehregott Wasianski, der spätere Biograf Kants, gestellt und geschildert. Er ist der Drehpunkt dieses Buches. Das ist nicht falsch, doch eben etwas anderes, als man erwartet bei diesem Titel. Vermutlich ist es schlicht so, dass über Lampe weniger bekannt ist. Auch dieses Buch mischt Fakten und Fiktion, ist aber in der Lage, Menschen, die nicht gerade Kant Fans sind (wie ich) irgendwie doch an die Kant’sche Philosophie, seine Entwicklung, Veränderungen und Beweggründe heranzuführen. Ganz zum Ende des Büchleins kam noch eine Überraschung. Zwar erwarte ich stets, dass man, wenn man über Kant spricht, auch über Mendelssohn spricht, doch geschieht es quasi kaum. Zu tief sitzen noch immer die tradierten Vorbehalte gegenüber dem jüdischen Philosophen. Doch Heidenreich bringt auch ihn zwar kurz, aber wie ich finde mit der angemessenen Bedeutung unter. Es tut sich also doch etwas. Danke dafür.

149 Seiten
Wallstein Verlag
ISBN 978-3-8353-5530-9
€ 22,00 (D)
Erscheinungsdatum: 26.07.2023


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