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Eine Woche

Seit einer Woche versuche ich, Dinge in Worte zu fassen. Seit einer Woche gehen mir Sätze im Kopf herum. Seit einer Woche schlafe ich schlecht. Seit einer Woche trage ich innere Unruhe in mir. Seit einer Woche sorge ich mich um Menschen, die mir wichtig sind. Dies ist kein Text einer Analyse, einer Einordnung der momentanen Situation. Die überlasse ich jenen, die sich damit auskennen. Es wäre vermessen, selbst etwas zu sagen. Dies ist nur ein Audruck persönlichen Erlebens, persönlicher Beobachtungen.


Ich werde geweckt. Hamas. Massaker. Angriff. Worte, die nicht in mein Gehirn vordringen, nicht vordringen wollen – sollen. Ich begreife erst später, was in dieser Schabbatnacht geschah. Es sollen Bilder folgen, Bilder, die sich einbrennen. Am Nachmittag schreibe ich einer Freundin, ob ihre Tochter in Ordnung ist und dass sie, wenn es geht, das Land verlassen soll. Ich fühle mich verantwortlich. Spüre, dass es dieses Mal anders sein wird. Nach Schabbat versuche ich, meine Lieben in Israel zu erreichen. Erleichterung: Alles in Ordnung. Unruhe: Sie sind nicht so entspannt wie sonst in all der Zeit. Selbst nach den Bomben in den israelischen Bussen, in denen sie sich selbst kurz vorher befanden, waren sie entspannt. Ein Leben in Bedrohung lässt anders reagieren, als wir es uns vorstellen können. Ich habe immer auf sie und ihr Gefühl vertraut. Alles ist anders, auch das. Die alten Eltern haben einen Bunker im eigenen Haus. Wir haben da Fernsehen gesehen. Das beruhigt mich. Wir gleichen alle Telefonnummern ab. Gespräche darüber, das Land zu verlassen, erübrigen sich.

Am Abend ein Treffen mit einem lieben Freund, jemand, der sich mit Krieg und Krisen auskennt, nun sprechen wir auch darüber. Das Gespräch beruhigt, lenkt ab und dennoch liegt an diesem Abend das Telefon auf dem Tisch. Ich schaue regelmäßig auf die Nachrichten. Das mache ich sonst nie. Die Nacht ist unruhig und kurz.

Die Tage verschwimmen.

Die Bilder dringen in die Nachrichten. Nicht alle. Die „Spezialisten“ in den sozialen Medien lassen sich aus. Politiker:innen reden von Staatsräson. Ich kann das Wort schon lange nicht mehr hören. Der Alltag beweist das Gegenteil. Christliche Theolog:innen faseln etwas von „Auge um Auge“ und „rächenden G’tt“ und wollen damit „erklären“, dass Israel nicht, wie es sich in ihren Augen gehören würde, still halten wird. Ich schreibe eine Antwort. Lösche sie wieder. Keine Kraft. Ich blockiere diese Menschen. Sollen andere auf Dummheit aufmerksam machen. In dieser Woche wird sich auch Richard David Precht wieder in Dummheit auslassen. Das ist nichts Neues bei ihm, der noch immer ein Forum bekommt. Das ZDF kündigt irgendwann eine Kürzung des Podcasts an. Überfällig war es schon lang. Nicht nur über Juden hat er Unsinn erzählt. Natürlich weint er wie erwartet.

Es ist Montag. Ich soll arbeiten gehen. Wie soll ich mich konzentrieren? Ich bin ganz woanders. Spüre und weiß, dass sich mit den Massakern der Hamas auch das Leben von Jüdinnen und Juden weltweit ändern wird. Wir kennen das. Schon lange trage ich keinen Davidstern mehr. Das Chaj erkennen nur wenige. Es ist sicherer. Draußen ist meine Aufmerksamkeit genauer. Die Sinne gespannt. lso zur Arbeit. Kaum bin ich in meinem Büro, kommt die Kollegin von nebenan. „Wie geht es Dir, also wegen Israel?“ fragt sie unvermittelt. Ich habe nicht damit gerechnet. Mir werden die Knie weich. Erzähle ihr von meinen Sorgen, meiner Angst. Ich bin dankbar. Wenig später fragt jemand anderes fröhlich, ob ich denn ein schönes Wochenende hatte. Ich kann mein Entsetzen nicht verbergen. Niemand wird in den kommenden Tagen einen Ton sagen, einen Zusammenhang herstellen, fragen. Es war nicht anders nach Halle. Doch nach dem Angriff auf die Ukraine war das Verhalten ein anderes. Kolleginnen aus der ehem. Sowjetunion wurde mit Fürsorge beachtet. Was erwarte ich denn bloß?

Ich funktioniere. An Schlaf ist nicht zu denken.

Wut steigt auf, Wut der Verzweiflung? Ich suche meine Davidsternkette, werde sie tragen. Der Trotz kommt durch. Gute Nachrichten: Die Tochter der Freundin wird ausgeflogen. Ich bin erleichtert und dankbar. Ich muss so viel an J. denken, die hier in Berlin seit Jahren für Verständigung von Menschen jüdischen und muslimischen Hintergrunds kämpft. Sie selbst ist in einem Flüchtlingscamp im Libanon geboren. Sie reagiert nicht auf meine Nachrichten. Hat auch sie keine Kraft mehr? Irgendwann schalte ich Instagram wieder an, seit Ewigkeiten. Sie ist dort, sie schreibt in einem Post, was ich hätte schreiben können. Sie findet die Worte, die ich seit Tagen suche. Trotzdem wir so unterschiedliche Geschichten haben, so fühlen wir so gleich. Hass hilft niemandem. Wir dürfen uns nicht auseinandertreiben lassen.

Ich erreiche meine Freunde in IL nicht mehr. Alles abgemeldet. Übersetzt heißt das, sie wurde eingezogen. Ich weiß nicht, ob ich sie je wiedersehen werden.

Vorsichtig erreichen mich Nachrichten von Menschen, die nicht wissen, was sie sagen sollen. Sagt einfach irgendwas. Sagt, dass Ihr da seid. Ihr müsst nichts verstehen, Ihr müsst nichts einordnen, erklären, heilen. Einfach nur sagen, ich denk an Dich. Ich merke, dass das mir diese Geste so sehr viel bedeutet. Und eh jemand etwas denkst: Die meisten Nachrichten kommen aus muslimischen Umfeld. Sie können eher verstehen und fühlen, was nicht beschreibbar ist – was mich aus der Bahn wirft. Ich lebe als zwei Personen. Funktioniere nach außen. Nach innen: Unruhe, kein Schlaf. Sorge. Angst. Die Hamas ruft am Freitag zu Pogromen auf, weltweit.

Ich habe das Privileg, zu Hause arbeiten zu dürfen und ich habe keine Kinder, die ich an diesem Tag nicht zur Schule gehen lassen würde. Ich arbeite zu Hause. Versenke mich in Arbeit. Den ganzen Tag warte ich auf schlechte Nachrichten und hoffe, dass die Menschen sich nicht missbrauchen lassen. Meine Hoffnung wird bestätigt. Sicher fühle ich mich weiter nicht. Ach, bleibt mir weg mit Staatsräson. Ich kann untertauchen in der Menge. Ich bin weiß, dunkelblond. Solange man mich nicht (er)kennt, bin ich nicht gefährdet.

Das Schwarz-weiß-Denken wird stärker in der Gesellschaft. Bald geht es wieder geschlossen gegen Muslime. Es ist immer dasselbe Muster. Ich „freue“ mich schon wieder auf die Fragen: Ja, aber der Antisemitismus, das sind doch die Muslime? Nein, sind sie nicht. Ein Freund schreibt auf BlueSky, als nach Ausweisung von Hamassympatisanten gerufen wird: Und wohin weisen wir unsere eigenen Antisemiten aus?

Eine Woche. Die Menschen in Nordgaza sollen ihr Zuhause verlassen, damit sie nicht sterben. Niemand will sie haben – wie all die Jahre auch. Wo sollen sie hin? Wir unterhalten uns, wie es wäre, wir müssten unser zu Hause verlassen und könnten nirgends hin. Wir haben keine Vorstellung.

Weiter kaum Schlaf. Ablenken. Keine Kraft. Will keine Bilder sehen, keine selbst ernannten Spezialistinnen hören.

Hass hilft nicht, Hass macht all das.

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7 Kommentare

  1. John John

    Guter Text, gute Worte für eine sehr schwere Zeit.
    Liebe Juna ich hoffe sehr das du bald von deiner Freundin hörst.

  2. Erwin Chudzinski Erwin Chudzinski

    Liebe Juna,

    meine Gedanken sind bei Dir, Deinen FreundInnen und den Familien.
    Danke für deinen Text.

  3. Nell Nell

    Danke! Der Text hilft einordnen. Auch Emotionen müssen eingeordnet werden. Meine Gedanken sind bei dir.

  4. Gabi Biell Gabi Biell

    Danke und bitte, bitte, liebe Juna, werde nicht still. Es ist für mich total wichtig deine Stimme zu hören, um die Zusammenhänge (besser) zu verstehen, denn diese Gedanken fehlen mir in der medialen Berichterstattung. Ich habe mir deine Seite also wieder gelinkt, wie schon einmal, als du in der Türkischen Gemeinde in Hamburg zum Thema Antisemitismus zu als Rednerin zu Gast warst, über meinen damaligen Arbeitskollegen Paul Steffen habe ich an dem für mich sehr informativen Abend teilgenommen.

  5. Lyn Lyn

    Was wolltest du den christlichen Theolog:innen antworten?

    • Dass ihre Bilder eines „rächenden G’ttes“ zum einen ein christliches Bild sind. Auch ihre vorgebliche „Begründung“ von ihnen prophezeiter „Rache“ der Israelis in „Auge um Auge“ hat zum einen schlicht nichts mit dem zu tun, was gerade dort vorgeht. Interessanterweise sieht das Problem in einer Publikation von 2017 das als Medienproblem:
      Der fälschlicherweise als »Rachegebot« bezeichnete biblische Satz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (2. Mose 21,23-24) regelt in Wahrheit Schadensersatzleistungen, wie sie auch die moderne Rechtsprechung kennt. Der Auslegungstradition zufolge soll damit ein Ausufern der Gewalt ver-
      hindert werden. Eine Aufforderung zur Vergeltung für erlittenes Unrecht kennt weder das Alte noch das Neue Testament. Es ist daher nicht sachgemäß, wenn in der Berichterstattung der Medien über militärische Aktionen im Nahen Osten immer wieder auf den genannten Bibeltext verwiesen wird.

      Normalerweise verdrehe ich bei diesen Sachen die Augen, doch in Anbetracht der Lage, war das so absurd, dass ich noch immer zu müde bin.

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