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Buchbetrachtung: Ein Stein auf meinem Herzen von Shlomo Birnbaum und Raffael Seligmann

Sie zogen fort und lebten glücklich und zufrieden, bis an ihr Lebensende. So enden Märchen. Und manchmal scheint es, dass auch die Geschichte der Überlebenden der Shoa so endet. Mit der Befreiung enden die meisten Lebensberichte.  Selten aber wird vom Seelenleben gesprochen, von den inneren Zweifeln, vom Stein auf ihrem Herzen, wie es Shlomo Birnbaum gegenüber Rafael Seligmann schilderte. 

Shlomo Birnbaum wuchs in Tschenstochau, heute Częstochowa auf und musste nach dem Überfall Deutschlands auf Polen im dortigen Ghetto leben und musste u.a. für die HASAG als Zwangsarbeiter arbeiten. Seine Erinnerungen, aufgeschrieben in klaren knappen Worten von Rafael Seligmann, bergen alle Trauer um den Verlust seiner Mutter, seiner Geschwister und anderer Familienangehöriger, und sind doch Analyse der Ereignisse und Frage, was Menschen dazu bewegte, das zu tun, was sie taten. Selten schrieb ein überlebender so klar vom schon vor dem Krieg vorhandenen Antisemitismus, und noch seltener von dem nach dem Krieg. Ein Grund, warum er schließlich mit seinem Vater, Tante und Onkel – den Überlebenden seiner Familie – nach Deutschland ging. Wo er nie bleiben wollte. Denn hier ist nicht eitel Sonnenschein, wie gern geglaubt wird. Es wird Zeit, dass darüber gesprochen, darüber nachgedacht wird.

Wir hören oft von den gepackten Koffern, mit denen die ersten Generationen wortwörtlich lebten. Das Leben überholte die Pläne, manchmal auch das Zielland wie bei Shlomo Birnbaum, dem Kanada wegen den Resten eines im Lager zugezogenen Fleckfiebers, das Visum verweigerte. Er kann schließlich in die USA emigrieren und kehrt wieder zurück. Es ist das, was das Buch zu etwas besonderem macht: er fragt sich selbst immer wieder, warum er blieb, zurückkehrte, sich hier letztlich sein Leben aufbaute und doch:

»Bleib nicht hier, Shlojme. Geh weg«, sagte mein Vater immer zu mir. »In diesem Land gibt es keine Zukunft für uns.« Ich sage dasselbe zu meinen Kindern. Ich hatte meine Gründe, hierzubleiben, und sie haben ihre Gründe. Doch meine Enkel, so hoffe ich, werden ihre Zukunft in einem anderen Land finden.

Es sind nachdenkliche Zeilen, die dieses Buch bestimmen. Kein Enthusiasmus der Hoffnung, dass im Land der Täter „so etwas nie wieder geschehen kann“. Es lässt die Resignation spüren, die immer öfter bei den letzten Überlebenden zu spüren ist.
Shlomo Birnbaums Kinder leben heute in München, Kanada und England. Es ist eine typische jüdische Familie, vielleicht auch eine typisch europäische Familie. Und dennoch liegt da der „Stein auf seinem Herzen“ er es selbst benennt.

Nach unserer Befreiung gab es Momente, da habe ich mich gefreut und ich habe gelacht. Aber ich habe nie mehr unbeschwert gelacht. Immer ist da eine Reserve. Ein Vorbehalt. Eine Erinnerung.

Heute beobachtet Birnbaum die Ereignisse auf den Straßen dieses Landes in den letzten Monaten – und hinterfragt sie. Er stellt Fragen, die nachdenken machen sollten, die nachdenken machen, liest man sie.

Er lebte sein Leben in München. Er kehrte nie wieder nach Polen zurück und beobachtet auch hier die Geschehnisse genau. Die Versuche, die polnische Geschichte in eine Geschichte der Unschuldigen umzuschreiben kritisiert er ebenso, wie er es unterstützt, dass nicht vergessen wird, dass die Vernichtungslager keine polnischen Lager waren.

Es ist ein anderes Buch. Ein kritisches. Und doch eines, das Hoffnung macht:

Das Leben ist gut und einfach, wenn man eine anständige Haltung hat. Meine Hoffnung ist, dass die Menschen erkennen, wie entscheidend das ist: Anstand.

 

Buchbetrachtung: Ein Stein auf meinem Herzen von Shlomo Birnbaum und Raffael Seligmann

Ein Stein auf meinem Herzen: Vom Überleben des Holocausts und dem Weiterleben in Deutschland
von Shlomo Birnbaum und Rafael Seligmann
Herder
176 Seiten

ISBN: 978-3-451-37586-6

 

 

 

Ein Kommentar

  1. jim jim

    http://www.hagalil.com/2017/01/amcha/#more-45054

    Leben nach dem Überleben

    Wie kann man das Vermächtnis der Schoah-Überlebenden bewahren? Bald werden wir nur noch dieses Vermächtnis haben, die Zeit der letzten Zeugen wird immer knapper. Wie können wir dann verstehen, was es bedeutete, den Holocaust nicht nur zu erleben, sondern ihn zu überleben? Ein beeindruckendes Dokumentationsprojekt hat mittlerweile eine Publikation dazu vorgelegt…

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