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Der Schmerz wohnt in Dir

Der Schmerz wohnt in Dir, in Dir alle Tage, jeden Moment Deines Lebens. Er ist immer da. Selbst, wenn Du ihn nicht hörst, nicht fühlst, wenn er nicht in Dein Sein drängt, Dein Leben stoppt, in dem Moment, in dem er es will. Keinen Atem kannst Du mehr holen, ist er da. Er wohnt in Dir alle Tage, still sonst, irgendwo in Deinem Körper. Und wenn Du ihn merkst, dann ist er laut, schreit seine Wut heraus in Dir. Lässt alles fallen, Dich verfallen, zusammenfallen. Du kannst nichts mehr tun, nur warten, ihn schreien, wüten lassen. Er wohnt in Dir, schon, als er sich nicht spüren ließ. Er war immer da. Mit Glück kannst Du lernen, was ihn antreibt. Mit Glück kannst Du es beeinflussen. Ich kann es nicht. Mein Schmerz ist da. Ich weiß, was ihn wütend macht. Doch ich kann es nicht ändern. Ich habe alles versucht. Medikamente, Therapien, sinnvoll, überflüssig, was auch immer. Noch immer versuche ich, denn mein Schmerz ist unberechenbar. Ein Segen die Medizin. Ein Fluch die Medizin. Ich kann ihn leiser machen mit Hilfe der Chemie, ich kann mein Herz schwächer machen mit Hilfe der Chemie. Ich habe die Wahl. Habe ich eine Wahl? Je weniger Kraft ich habe, mich vom Schmerz zu erholen mit dem Alter, um so weniger darf ich das, was helfen kann, nehmen. Wie geht es dem Schmerz damit? Hilft es auch ihm? Ruhiger zu sein, weniger wütend? Wir leben ineinander, wir können nicht reden, wir müssen ineinander leben. Weder er noch ich wurde gefragt. Er ist da der Schmerz. Er wohnt in mir, ich wohne in ihm.

Die Stille, wenn er nicht brüllt, der Schmerz, ich traue ihr nie. Bin mir der Stille gewahr und glücklich, doch traue ich ihr nicht. So schnell kann es vorbei sein. So schnell kann ich aus dem Leben gerissen werden und alles, was bleibt, ist Dunkelheit, Lautlosigkeit und warten, warten, dass er sich ausgetobt hat und so leise und plötzlich verschwindet, als wäre nichts gewesen.

Ich habe versucht, mich mit ihm anzufreunden. Kein Leben kenne ich ohne ihn. Es gab Jahre, mit wenig Schmerz, doch sie sind wenige. Gerade brüllt er wieder. Schon gestern fing er an zu trampeln und zu hämmern, die Nacht gab er Ruhe oder er schlief, um Kraft zu sammel für diesen Tag und um am Morgen sein Haus umräumen zu wollen, Wände einreißen, Boden mit dem Presslufthammer entfernen. Trägt er eigentlich einen Hörschutz bei seinem Lärmen? Oder muss nur ich das tun? Muss nur ich alles aushalten, weghalten, stillhalten? Das Licht weg, Geräusche weg, Gerüche weg, Bewegungen weg, alles weg, was Sinn ist. Dem Tag, den Leben dem Sinn nehmen, das tut der Schmerz, der in Dir wohnt. Kein Lesen, kein hören, kein reden. Alles bekommt das „zu“ davorgesetzt: zu laut, zu hell, zu viel Geruch, zu viel Bewegung, zu viel Welt, zu viel Leben.

Er wohnt in Dir, der Schmerz und will Dein Leben kontrollieren, wenn er wütet und brüllt. An guten Tagen kann ich mich versöhnen. Ich kenne kein Leben ohne den, der in mir wohnt. Doch andere kennen ihn nicht, sie sind hilflos, können nicht verstehen, nicht sehen. Man sieht ihn nicht, den Schmerz. Wer mich kennt, kann ahnen, dass er da ist, dass er lauter ist als ich. Kann sehen, dass ich nur Hülle bin, mich aufrecht halte und doch einfach nur verschwinden will – weg von ihm, der in mir wohnt. An guten Tagen habe ich es geschafft, ihn als ein Teil von mir zu sehen, denn das ist er. Er wird nie weggehen, ich muss mit ihm leben. Ist er mein Untermieter, bin ich auch der seine? Er wohnte in mir schon immer. Er wird nicht gehen. Er ist da, er wütet, er tobt, er stoppt mein Leben mitten im Lauf und manchmal, nein immer öfter habe ich weniger Kraft, den Lauf wieder aufzunehmen, wieder im Tempo, das ich hatte. Er schwächt, selbst, wenn er wieder leise ist, sich zurückgezogen hat, in seine Gemächer, bin ich nicht die Alte. Ich brauche Tage, um wieder ich selbst zu werden, wieder die, die ich sein könnte, wäre er nicht da und würde mein Leben übernehmen – zu viele Tage meines Lebens. Tage, die ich nicht zählte. Tage, die fehlen, verloren sind für immer.

Er wohnt ihn Dir, der Schmerz, er wird nicht gehen. Er wird toben und brüllen. Alles übertönen. Er wird Dir die Kraft rauben. Er wohnt in Dir. Auch er ist ein Gefangener Deiner selbst, wie Du eine Gefangene seiner selbst bist. Er wohnt in Dir der Schmerz und er wird nicht gehen. Lebe damit und warte, dass Du wieder leben kannst dazwischen, an den Tagen, die Dir nicht geraubt wurden. Lebe damit und warte, zähle die Tage nicht. Du hast keine Wahl. Das ist Dein Leben.


Foto: Mohamed Nuzrath von Pixabay


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2 Kommentare

  1. Ein sehr berührender und irgendwie krasser Text, Weil er trifft.
    Trifft und trotzdem weich ist.

    • jim jim

      Und er macht traurig unendlich.

      Warum?

      Es ist dieses Ausgeliefertsein.
      Es ist diese abgrundtiefe Hilflosigkeit.

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