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Buchbetrachtung: Die Fotografinnen Nini und Carry Hess

Sie starb im Urlaub. Hinter ihr lag ein demütigender jahrelanger Kampf um etwas Lebenswürde, um eine Rente, um etwas symbolische Wiedergutmachung für das, was man ihr raubte: ihre Schwester, Ihre Mutter, ihr Geschäft, ihre Leidenschaft. Was blieb von ihrem alten Leben war im wahrsten Sinne nur ihr Leben. Eine kleine Mansarde hat sich Carry in Paris von der letztlich erkämpften Zahlung gekauft, die nun monatliche Rente ermöglichte ihr endlich ein Leben, ohne Sorge um die täglichen Dinge. Zehn Jahre Kampf um etwas, was doch ihr Recht sein sollte. Es war der erste Urlaub, den sie sich erlaubte. Hier in der Schweiz wollte sie Ruhe finden, sich von all dem Kämpfen, den Demütigungen erholen, sie fand sie für immer.

Das Studio Hess in Frankfurt/ Main

In den letzten Jahren ist sie oft nach Frankfurt zurückgekehrt, um um all diese Dinge zu kämpfen, um ein würdiges Leben zu bekommen. Man erkannte sie dort, man umarmte sie auf der Straße. Sie war eine Berühmtheit – in Frankfurt. Sonst war sie vergessen, wie auch ihre Schwester, ermordet von den Nationalsozialisten, vergessen war. Die Schwester, mit der sie berühmt wurde, die Schwester, mit der sie arbeitete und ihr Studio betrieb: das Studio Hess. Nini und Carry Hess. Die Schwestern hatten dort alles vor der Linse, was Rang und Namen hatte, sie reisten mit der Kamera zu Aufträgen durch Deutschland. Ihre Bilder wurden zu Ikonen, ihr Name wurde (fast) vergessen. Bis jetzt.

Buch und Ausstellung

Als Begleitband geplant für eine Ausstellung im Museum Giersch in der Goethe-Universität, die 2021 nicht gezeigt werden konnte, erschien das umfangreiche Werk “Die Fotografinnen Nini und Cary Hess” im Hirmer Verlag. Es ist ein Buch, in dem man versinken kann, in dem ich immer wieder Fotografien erkannte und verstand, wie wir die Fotografien, Bilder von Menschen kennen, selten die Namen der Machenden, erst recht nicht, wenn es Frauen waren (und sind). Als Berlinerin ist es das Bild von Claire Waldoff, dass zuerst diesen Effekt hatte, aber auch das der Fechterin Helene Mayer und das Thomas Manns. Sie alle sind versammelt im Buch und blicken die Lesenden an, wie sie die Schwestern Hess einst ansahen. Eine gute Mischung aus informativen Essays, die eher leise in den Hintergrund treten und den kraftvollen Bildern, die die Machenden aus vielen Archiven und Sammlungen des Landes zusammentrugen, machen das Buch zu etwas sehr Besonderem. Nur sehr unterschwellig begreift man, welche Arbeit diese Ausstellung, dieses Buch gewesen sein muss.

Ausstellung ohne Archiv oder Nachlass

Kein geordnetes Archiv von Negativen und Glasplatten, kein Nachlass gab es. Alle Arbeit, alle Originale wurden durch die Nazis zerstört, als mit dem Atelier an der Börsenstraße die Geschichte und Arbeit des Studios vernichtet werden sollte. Alle wertvollen Kameras, selbst jene im Tresor fielen dem Hass zum Opfer und damit auch die Zukunft für eine Auswanderung. Wie sollte man all das je wieder anschaffen können, ohne Ersparnisse?

Auswanderung und Deportation

Carry war zu dieser Zeit bereits in Paris und versuchte, für sie und ihre Schwester ein Leben aufzubauen. Als es allmählich gelang, besetzten die Deutschen Frankreich und Carry wurde nach Gurs deportiert. Der Weg nach draußen war für Nini und die Mutter zu dieser Zeit bereits abgeschnitten. Sie wurden wie zu viele Frankfurter Jüdinnen und Juden über die Großmarkthalle deportiert, an beide erinnern heute Namenstafeln in der Gedenkstätte Börneplatz.

Theaterfotografie und HaBima

Doch noch mehr lernt man mit diesem Buch: die Geschichte der Fotografie, natürlich. Beide fotografierten viele Schauspielerinnen und Schauspieler, denn sie waren es, die gute Fotografien brauchten, Fotografien die anders waren. Die Schwestern fotografierten in Theatern, wurden engagiert, publizierten und setzen auch der Gruppe “HaBima” mit ihren Fotografien ein Denkmal und damit auch mit diesem Buch, das sich ganz dem jüdischen Theater – auf Hebräisch – widmete. HaBima hat heute wieder Nachfolger, doch werden die an den einstigen Erfolg anknüpfen können? Menschen mit einer Theaterleidenschaft, sollten in jedem Fall einen Blick ins Buch werfen.

Fazit

Das Buch schafft zwei Dinge und ist mehr als ein reiner Ausstellungskatalog. Es kann für den Moment die Ausstellung ersetzen, die nun ab 11. März gezeigt werden soll, es sammelt vor allem aber all das zusammen und lehrt, wie schnell Menschen und Namen vergessen wurden, wie schnell Leben zerstört wurden und dass man ihnen, wenn auch viel zu spät, die Aufmerksamkeit und Achtung zurückgeben kann, die sie verdienten. Nini und Carry Hess haben durch ihren eigenen Stil und ihre Porträts Maßstäbe gesetzt, nicht nur im Rückblick. Sie sind ein Teil des neuen Selbstverständnisses von Weiblichkeit. Ihre Fähigkeiten wurden in der Welt der Porträtfotografie schon zu ihren Lebzeiten hervorgehoben und gewürdigt, bevor die Nazis ihr Lebenswerk zu zerstören suchten und es fast schafften. Allein durch den Erfolg der Fotografinnen, haben wir das Glück, so viel ihrer Arbeiten noch immer sehen zu können, wenn auch ein Großteil für immer vernichtet ist. Wir können eine Ahnung davon erlangen, was Porträtfotografie bedeutete, bevor es Selfiefluten gab, was ein gutes Porträt bedeuten konnte für die Karriere eines Menschen – und was es eigentlich noch immer tut. Wir vergessen es vielleicht zu oft. Ein Bild soll den Menschen zeigen, mehr als nur sein Abbild.

Und vielleicht ist es gut, dass die Ausstellung 2021 nicht gezeigt werden konnte, vielleicht wäre sie untergegangen in 1700-Jahre-Feierlichkeiten. Frauengeschichten wie die von Nini und Carry Hess verdienen mehr Aufmerksamkeit als durch ein Jubeljahr hervorgerufen. Ihre Geschichten sollen unabhängig erzählt werden. Dazu besteht nun die Chance.


Buchbetrachtung: Die Fotografinnen Nini und Carry Hess

Katalog
Die Fotografinnen Nini und Carry Hess
Hg. Eckhardt Köhn, Susanne Wartenberg  im Auftrag des Museum Giersch der Goethe-Universität
39,90 Euro
ISBN: 978-3-7774-3696-8

Blick ins Buch


Ausstellung:
Die Fotografinnen Nini und Carry Hess
11. März bis 22. Mai 2022
Museum Giersch der Goethe-Universität
Schaumainkai 83 (Museumsufer)
60596 Frankfurt am Main


Ich erhielt das Buch dankenswerterweise vom Hirmerverlag. Ich war nicht verpflichtet darüber zu schreiben und habe auch sonst keine weiteren Vergünstigungen erhalten.


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