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Von vorne bis hinten – die Zeitschrift Jalta

Einen Vorteil hat es, wenn man viel mit dem Zug unterwegs ist, wie ich es derzeit bin: ich komme zum Lesen, zum sehr viel Lesen. Gerade eben habe ich das vierte Heft der „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ durchgelesen – von vorne bis hinten. Weil meine Gedanken dazu raus müssen, gibt es in Folge nun die dritte Empfehlung.

Die Jalta ist keine neue Zeitschrift. Das fünfte Heft, oder sollte ich besser Buch sagen, erscheint demnächst. Ich nahm mir Zeit dafür. Zeit zum Lesen, zum Nachdenken und zum Beobachten. Wohin wird sie gehen, die Jalta, hält sie die Dynamik durch? Wird sie ausreichend Leserschaft finden? Ich wollte nicht zu vorschnell ein Urteil fällen. Nach dem vierten Heft frage ich mich, wie es ohne gehen konnte.

Die Jalta beschreibt sich als ein Forum, „… in dem jüdische wie nicht-jüdische Stimmen zu Wort kommen. Die Autor*innen machen übersehene Perspektiven sichtbar und beziehen diese aufeinander. Sie artikulieren und entwickeln kritische Positionen und reflektieren aktuelle Diskussionen. Ihre Auseinandersetzungen stellen mehrheitsgesellschaftliche Deutungsmuster in Frage, spiegeln die Diversität der Post-Migrationsgesellschaft wider und zeigen Möglichkeiten der Allianzbildung auf.“

Klingt sperrig für eine Bahnfahrt? Das ist sie nicht. Wer erwartet, dass die Jalta im besten Fall jüdische Perspektiven auf die Gesellschaft beinhaltet, ist hier falsch. Das mag für manche das Manko sein, für mich ist es das Plus. Denn wie können wir die Gesellschaft anders betrachten, als die anderen Perspektiven mit einzubeziehen. Wie können wir eine Betrachtung wagen, ohne zu fragen: Wie siehst Du das? Die Jalta ist dabei keine Zeitschrift der mehrheitsgesellschaftlichen Dominanz. Perspektiverweiterung für alle, in der Bahn, zuhause, mit und ohne Strom.

Eben schlug ich die „Gegenwartsbewältigung“ zu, die sich vornehmlich mit dem Umgang mit der Geschichte und der „Vergangenheitsbewältigung“ befasst. Sie hinterfragt standardisierte Erinnerungsmodelle. Ein Heft, dass ich jedem, der mit der sogenannten „Erinnerungskultur“ befasst ist, ans Herz legen möchte. In der Blase der Erinnerungsarbeitenden findet man, bzw. ich zu wenig Selbstkritik, zu wenig des Selbsthinterfragens. Aus der eigenen Blase herauszukommen und den Blickwinkel zu wechseln kann schmerzhaft sein, für eine Neuaufstellung der eigenen Arbeit und damit auch einer Orientierung an der Zukunft ist es indes unerlässlich – denn selbst beim Erinnerungsweltmeister Deutschland sind Fehler gemacht worden und werden weiter gemacht. Diese zu sehen, erkennen und anzuerkennen wäre mein Wunsch.

Auch in dieser Ausgabe gibt es wieder Dinge zum Schmunzeln, Geschichten von Begegnungen, fotografische Essays und etliches an Selbstkritik – was mir auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu oft (zumindest öffentlich) fehlt. Ein Gedanke, der mich oft herumtreibt, vielleicht eben sollten wir mehr unsere vermeintlich internen Diskussionen zeigen, sollten zeigen, dass wir bei Weitem nicht in allem eins sind.

Jedes der Hefte steht unter einem Oberthema, an dem es sich orientiert. Bis dato waren es der Reihenfolge nach: Selbstermächtigung, Desintegration, Allianzen und Gegenwartsbewältigung. Die kommende Ausgabe hat das Thema „Exile. Ein Kunstheft.“ Ich bin gespannt.

Gibt es Dinge, die ich mir wünschen würde. Anfänglich wünschte ich mir in der Tat etwas: Diskussionen zu unterschiedlichen Themen aus religiöser Perspektive. Nach vier Heften weiß ich, dass das nicht der Ort ist. Es wäre also Raum für noch mehr Raum für Diskussionen und Denkanstöße – eben aus religiöser Sicht.

Die Jalta gibt Ein- und Ausblicke. Sie lässt Perspektiven einen öffentlichen Raum, die man im Alltagstrubel kaum hören würde, die man (noch) nicht kennt oder nur, wenn man im Thema steckt. Trauen Sie sich, wagen Sie den Perspektivwechsel und lassen Sie zu, dass Sie feststellen müssen: Ich war auf dem falschen Dampfer. Umsteigen möglich.


Eine Jalta hat um die 170 Seiten, viel Stoff zum Lesen und Nachdenken, zum Streiten und Reden, zum Reflektieren und vor allem zum Lernen. Das Heft kostet 16 Euro, ein Abo (2 Ausgaben pro Jahr) 28 Euro. Sie kann direkt über den Verlag oder im Buchhandel erworben werden.


Disclaimer: Ich wurde nicht bezahlt oder gebeten, diese Empfehlung zu schreiben. Ich habe ein selbst bezahltes Abo und habe dies hier aus freien Stücken geschrieben. Ich erhalte keine Gegenleistungen. 

6 Kommentare

  1. jim jim

    Jalta? Warum nennen die ihr Magazin gerade Jalta?

    Ist da etwa die Konferenz von Jalta, der Hintergrund, frag ich mich? Nein, eher russische Literatur? Etwa Tschechow? Tschechow, der sich, ob seiner Krankheit dort, in Jalta dem Kurort, ein Haus gebaut hat. Der sich dort, die Revolution, die große Veränderung lässt sich schon ganz zart erahnen, mit Gorki trifft? Tschechow, dessen Gurow aus „Die Dame mit dem Hündchen“, dort, in Jalta, seinem Schicksal Anna Ssergejewna begegnet, oder dessen nervenkranker Kovrin aus „Der schwarze Mönch“, auf dem Weg dahin, an einem Blutsturz stirbt?

    Jalta, der Kurort, der Heilung verspricht? Änderung? Neubeginn? Aber auch Vergeblichkeit? Leicht möglich, dass da etwas dran ist. Der Assoziationen wären, vor diesem Hintergrund, tatsächlich viele möglich, aber ob‘s das auch wirklich ist?

    Kurze Recherche – na – da haben wir‘s ja schon: https://www.juedische-allgemeine.de/religion/rebbetzin-im-geschlechterkampf/

    Denke, dieses Heft sollte man tatsächlich abonnieren, eigentlich!

    • Tjanun, die ersten Rezenssionen bezogen sich ausschließlich auf das erste Heft, deshalb gab ich ihr drei Chancen mehr….

  2. Wir kommen zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen und das ist ja auch gut so.

    Von einem Medium, welches sich dem »Diskurs« verschrieben hat, würde ich auch genau das erwarten und habe es nicht gefunden. Eher eine gegenseitige Vergewisserung auf der richtigen Seite zu stehen.

    Vom Zeigen der internen Diskussionen: Die werden oft schon nicht intern so ausführlich geführt, wie es wichtig wäre und das wäre ein gutes Zeichen von Vitalität. Es ist also eher nicht zu erwarten, dass die nach oben gespült werden.

    • Ja, ich konnte Deine Schlussfolgerung sehr nachvollziehen. Allerdings sehe ich es eben vielleicht doch weniger als ein jüdisches Heft oder gar eine jüdische Perspektive – und die sind vor allem in der letzten sehr unterschiedlich. Ich hatte ursprünglich auch etwas anderes erwartet. Jetzt sehe ich es eher vom professionellen Blickwinkel. Da reiht es sich schon qua Autorenschaft sehr ein.
      Du hast völlig recht, die internen Diskussionen sollten überhaupt ersteinmal geführt werden. Man sollte sie aber, so es einmal angegangen wurde, auch nicht verheimlichen in der Art: Bei uns ist alles toll und wir sind uns so sehr einig. Jeder weiß, dass es nicht so ist. Es wäre auch sehr unnormal. Angst davor vermeintliche Schwächen zu zeigen, sollte man auch nicht haben.

    • Ignaz Ignaz

      Dem kann ich nur zustimmen, lieber Chajm!

      Gut, wer sich von diesem elitären Künstlergehabe beeindrucken lässt und auf „Diskurse“ verzichten kann, weil die Meinung immer schon einseitig vorgegeben ist, der mag Jalta!

      Aber Juna testet ja noch die nächsten drei Ausgaben! ;-)

      PS: Anscheinend gibt es bereits die neuen Mitgliederzahlen von der ZWST, die als Pressemitteilung verschickt wurden. Sollten hier eventuell mal diskutiert werden, insbesondere die wieder hohe Anzahl an Austritten…

      • Der Untertitel sagt deutlich, dass es sich um Positionen handelt. Diskurse zu führen ist nicht Ziel dieses Papiers, sondern eben der Leser – oder eben Nichtleser. Bei „elitärem Künstlergehabe“ reagiere ich im Übrigen sehr empfindsam. Das wurde auch gerne durch die SED-Bonzen angeführt, die mit der „Intelligenz“ ein Problem hatten.

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