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Die Bücher meines Sommers 2021

Der Sommer war kürzer in diesem Jahr, der Lesesommer, nicht der Reisesommer. Beides existierte überhaupt, anders als im vergangenen Jahr. Auf dieser Reise konnte ich wieder lesen, etwas, was mir während zweier Jahre nicht mehr gelang. Hier nun die Bücher dieses Sommers in Lesereihenfolge:

Mittagsstunde – Dörte Hansen

Die Bücher meines Sommers 2021

War ich von Altes Land noch positiv überrascht, so begeisterte mich Mittagsstunde. Ich habe ein Faible für den Norden, für die scheinbare Stille, ja Einsilbigkeit der Menschen dort. Sie sagen und erzählen mehr als die unverschlossenen Menschen des Südens. Ich bin ihnen Näher und finde dort Ruhe.
Dörte Hansen geht mit Mittagsstunde der Geschichte und dem Sterben eines Dorfes nach und fragt, wann dieses Sterben begann. War es als die Flurbereiniger kamen und die Landschaft gleich machten? Warum wollten die Kinder keine Bauern mehr werden und warum gibt es keinen Laden mehr? Mit großer Liebe beschreibt sie die Figuren, die zunächst spröde erscheinen. Sie tut das mit teils ebenso spröder angenehm klarer Sprache, oder vielmehr einer Sprache, die wie der Nebel über den Feldern an einem Wintermorgen erscheint, sie beschreibt die Menschen, ihre Gedanken und Wege. Das Sterben eines Dorfes, was es nie wieder geben wird und was doch mit anderen Menschen anders überlebt, steht für so viele Orte, die mit ihren Menschen starben – und von anderen vielleicht wieder besiedelt wurden und unter dem selben Namen ein anderes Leben führen. Ein wunderbares Buch

Hard Land von Benedict Wells

Die Bücher meines Sommers 2021

Hard Land wurde als 80er Jahre Buch beschrieben, diese Zeit würde mit ihm aufleben. Das tut sie nicht. Es ist die Geschichte eines Sommers, wie er jederzeit stattfinden konnte, als es noch kein Internet, keine Sozialen Medien gab. Gelegentlich werden Musikstücke der 80er erwähnt, doch das reicht nicht, um auf die Jahre eingeengt zu werden, das braucht es auch nicht. Ich würde es ein wenig in Geschichten wie Tschick einordnen, eventuell auch tatsächlich als Jugendbuch. Es erzählt die Geschichte einer Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, eine Geschichte der nachmittäglichen Flucht aus einem Zuhause, das keines ist.
Sprachlich braucht es etwas, um hineinzukommen. Es werden Wortformulierungen genutzt, die für Norddeutsche eher befremdlich erscheinen. Es durchzuckt kurz und lässt fragen, warum man das nicht glatt bügelte, wenn es doch eine amerikanische Geschichte ist. In anderen Rezensionen las ich, dass es sich wie eine mittelmäßige Übersetzung läse. Das ist nicht so. Man kommt hinein und ist vor Ort, man fühlt mit Sam, der irgendwie zwischen den Zeiten und Gefühlen lebt und bei seinem Job in einem Kino, das am Ende des Jahres schließen wird, ältere Freunde findet, zu denen er eine Verbindung findet, die ihm bisher mit Gleichaltrigen verwehrt blieb. Freunde aber, die wie das Kino die Stadt verlassen werden, deren letzter Sommer es vor dem College ist. Doch Sam findet noch mehr: sich selbst.
Eine schöne Geschichte eines Sommers, in dem noch Kassetten eine Rolle spielen und die man vielleicht mit einem Mixtape der erwähnten Bands lesen kann.

Was vom Tage übrig blieb – Kazuo Ishiguro

Die Bücher meines Sommers 2021

Die Verfilmung sahen wir in unserer kleinen merkwürdigen Gruppe von Menschen an der Schule, die irgendwie anders waren. Wir sahen sie mehrfach. „Wiedersehen in Howards End“, „Zimmer mit Aussicht“, ein England einer anderen Zeit. Emma Thompson und Anthony Hopkins waren die Helden unserer Filmherzen.
Nun, fast dreißig Jahre später war es an der Zeit, das Original zu lesen – und zu sagen – ja, auch dieses Mal war das Buch besser, sensibler, voller Zwischentöne, für die im Film weniger Zeit war oder dem Filmgenre zuliebe umgeschrieben wurden. An eine teils umständlich anmutende Sprache muss man sich zunächst gewöhnen. Der Butler Stevens erzählt die Geschichte mit seinen Selbsthindernissen und Ausblendungen, die zwischen den Zeilen hervorscheint. Schütteln möchte man ihn, dass er die Augen öffne, dass die Zeiten sich änderten, dass er Gefühle haben darf und soll. Und gleichzeitig versteht man das Leben und das Verhalten dieses Menschen, der aus einer untergegangenen Welt hervorgetreten ist und in ihr bleibt.

Das Buch schildert in anderer Weise, was Lord Darlington mag bewogen haben, den Kontakt zu Deutschen zu suchen, selbst als „Herr Hitler“ bereits an der Macht war. Im Film ist dieser Aspekt weniger gut herausgearbeitet oder sollte es nicht sein. Gleichzeitig ist es ein wenig ein Reisebuch durch englische Landschaften, das Lust macht, die kleinen Straßen abzufahren, die es vermutlich nicht mehr gibt und deren Erreichen derzeit zu kompliziert ist. Nicht ohne Grund ist das Buch preisgekrönt, und sein Verfasser Literaturnobelpreisträger. Es zu den Büchern, die man gelesen haben sollte im Leben.

Wo die Welt anfängt – Truman Capote

Die Bücher meines Sommers 2021

Diese Erzählungen waren (und sind) eine Sensation, wurden sie erst vor wenigen Jahren entdeckt. Vor allem aber in der Sprache, die Capote bereits in diesem jungen Alter fand. Eine Sprache, die mitreißt und sein Suchen, sein Arbeiten an ihr erahnen lässt. Teils sind die Geschichten unvollendet, vor allem aber sind sie Beobachtungen der Welt um ihn herum, die er bereits in jungen Jahren so unvergleichbar zu Worten formen kann, dass man das Buch, das viel zu kurz erscheint nicht mehr weg legen will.

Ein Lesemuss, auch zum unterbrechen, weglegen und wieder aufnehmen sehr geeignet.

Der falsche Gruß – Maxim Biller

Die Bücher meines Sommers 2021

Gleich vorab: Es war ein Fehler nach Capote Biller zu lesen. Ich hätte Zeit vergehen lassen sollen, um die sprachliche Wucht Capotes verklingen zu lassen. Doch wie es Sommer in sich haben, lese ich ein Buch nach dem anderen, ohne Pause.
Die Diskrepanzen waren zu groß und die durchaus interessante Geschichte von Rivalitäten in der Literaturwelt, Geschichten von Lügen und Alter und Konkurrenz, verblassten. Ich brauchte etwas, um mich mit dem Roman in Berlin wiederzufinden, im Berliner Literaturbetrieb. Im alten und neuen Prenzlauer Berg, am Wannsee…
Das Buch ließt sich billerschnell und lässt vieles wiedererkennen an Orten und Menschen und macht Spaß. Doch es erscheint unvollendet. Ich kann es schwer in Worte Fassen und daher wird es ohne Belang sein, doch es fehlt etwas. Als ob das Manuskript weggelegt wurde, um zu gären und dann ohne den Schaum abzusieben gedruckt zu werden. Wer einen unterhaltsamen bitteren Nachmittag im Berlin, das es nicht mehr gibt, sucht und den Verriss der Literaturprotagonistinnen bzw. ihres Umgangs miteinander genießen will, der sollte am Falschen Gruß nicht vorbei gehen. Was bleibt ist die Frage, ob wir so manche Geste oder Reaktion nicht zu hoch treiben – und damit Menschen zerstören …. Ich habe nun ein paar Wochen immer wieder über dieses Buch nachdenken müssen und es bleibt das Gefühl, dass es nicht abgeschlossen war und ist, ein unbefriedigtes Gefühl, wie ich es nur selten bei Büchern habe.

Glitterschnitter – Sven Regener

Die Bücher meines Sommers 2021

Der Nachfolgeroman von Wiener Straße führt uns wieder ins Kreuzberg der frühen 80er. Ins instandbesetzte Haus, das doch eigentlich einem der vorgeblichen Besetzer gehört, die Intimfrisur läuft nicht und die österreichische Abteilung der Besetzer träumt von einem echten Kaffeehaus, das Café an der Wien. Die Punks haben das Hinterhaus besetzt und irgendwann kommt man doch miteinander klar und in allem die neugegründete Band Glitterschnitter, die so gern bei der Wall Noise auftreten möchte. Doch die Managerin will sie nicht. Ein Künstler, der ein Bild malen soll und doch lieber eine IKEA-Musterwohnung nachbauen will. Das Chaos und die Möglichkeiten, aber auch die Kälte und das Desinteresse der Stadt wird thematisiert.Ich genoss dieses Buch, genoss es mehr als Wiener Straße. In Gedanken ging ich die Straßen ab und habe das große Privileg, an meiner Seite jemanden zu haben, der dieses Kreuzberg, dieses Berlin noch kennt, mit dem ich über die originalen Plätze und Personen, die hier vermutlich als Vorlage dienten, sprechen konnte. Und selbst wenn wir falschlagen, die Stimmung bleibt.Eine Liebeserklärung an das alte Berlin, das Vergangenheit ist, aber in Menschen weiterlebt. Wunderbar.

Krimiecke

Ohne Krimi geht die Mimi… zum Einschlafen gelesen: James Patterson: Das 10. Gebot, Die 11. Stunde und Die Tote Nr. 12.


Foto „Woman reading Book“ von Dariusz Sankowski

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Ein Kommentar

  1. Bernd Hoppenstock Bernd Hoppenstock

    Vielleicht sollten wir uns heute mehr denn je auf den Sinn- Sucher Viktor Frankl mit seiner Logotherapie besinnen

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