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Eisberg in Deutschland

Gewöhnlich haben die unterschiedlichen Kalender, der jüdische und der gregorianische, keinen Einfluss auf mein Leben, auf meine Gedanken. Jüdische Feiertage sind jedes (zivile) Jahr an einem anderen Tag. So ist es nun mal. In diesem Jahr ist es anders.

Ein E-Mail mit der Bitte um ein Interview zum Jahrestag des Anschlags von Halle ließ mich stutzen: Heute? In meinem Kopf ist Halle mit Jom Kippur verbunden. Jom Kippur ist nun schon mehr als zehn Tage vorüber, selbst Sukkot ist heute an seinem Ende angekommen.

Ich war und bin noch immer froh, dass ich meine Erinnerung an Jom Kippur im Jahr nach Halle mit etwas Positivem besetzen konnte, und ich bin froh, dass der gesellschaftliche Jahrestag nichts mit „unserem Jahrestag“ und noch weniger mit unserem Feiertag zu tun hat. Nur mit einem Auge verfolgte ich die geradezu rituell gleichförmigen Lippenbekenntnisse. Die Reden von „Angriff auf uns alle“ und gleichzeitig sehe ich, wie die jüdischen Gemeinden um Schutz kämpfen müssen, sich selbst überlassen werden. Ich sehe, die weiter fehlende Empathie selbst bei jenen, die es selbst anders zeigen möchten. So wirft eine engagierte Frau auf einem Marktplatz in Halle der Gemeinde vor, dass sie nicht sichtbarer sind, wenn sie auf dem Marktplatz die Vielfalt feiern wollen. Wirklich? Wann genau wollte man Sie ermorden, als Sie nur beten wollten? Können Sie sich nicht vorstellen, dass das Spuren hinterlässt? Angst, das Vermeiden des Sichtbarsein, des Lebens, das sich um anderes dreht und drehen sollte, um Familie, Kinder, Freunde, Arbeit, einfach Leben. Nicht Juden sind zuständig, die Vielfalt zu zeigen in einer Gesellschaft, in der sie um ihr Leben fürchten müssen. In einer Gesellschaft, die verlangt, doch nicht gibt.

Ich sehe, wie viel Polizeipräsenz möglich ist, geht es um G20 Gipfel, um Demonstrationen von vermeintlich Linksextremen und heute, die Räumung der Liebig 34 in Berlin. Diese Polizeipräsenz wünschte ich mir, stünde ohne Wenn und Aber zur Verfügung, geht es um den Kampf gegen rechts, den Schutz jüdischer Einrichtungen – ohne Wenn und Aber. Stattdessen murmelt man etwas davon, dass für Letzteres die Ressourcen fehlten, nicht nur in Sachsen-Anhalt, man ist erstaunt bis erschrocken über rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr. Ernsthaft?
Auch hier, wie überall in der Gesellschaft fehlt es an Unterstützung derer, die gegen das, was wirklich gefährlich ist: Rechtsextreme Strukturen in diesem Land, lang gewachsen, gehegt und gepflegt beiderseits der Mauer und nie ernsthaft bekämpft. Und bitte kommen Sie mir nicht mit der DDR. Man mag zu Beginn mehr gemacht haben, doch hat es nicht weniger versäumt zum Ende des Staates. Ein Blühen von Rechtsextremismus das eher gegossen als ausgegraben wurde. Beobachte ich, was Menschen wie Oliver von Dobrowolski öffentlich entgegenschlägt, wenn er sich öffentlich gegen rechte Strukturen in den Reihen der Polizei einsetzt, möchte ich nicht wissen, wie es intern aussieht.

Doch ich weiß, dass es Menschen, wie ihn gibt. Ich weiß auch, dass sie da draußen sind, die Menschen, die, wie gestern Abend die Dame in meiner Lesung sagte „Ich möchte so viele einfach nur schütteln“. Die Menschen, die sich engagieren, etwas gegen den Hass tun möchten und die man irgendwann sieht mit Kerzen an Orten, an denen geschlagen, verprügeln, gemordet wurde – ohne, dass sie etwas ausrichten konnten, wollen wirklich etwas tun. Ich glaube ihnen. Doch Schütteln hilft nicht (mehr).

Solange es zum Ritus der Politik gehört von „Versöhnung“ zu sprechen, von „ein Angriff auf uns Alle“ und Beauftragte für Allerlei zu berufen, die Gesetze aber die gleichen bleiben, das Personal dasselbe und der, nennen wir ihn Geist im Korpsgeist, nicht der ist, in dem unser Grundgesetz das Zentrum allen Denken und Handelns ist, sind alle auf dem verlorenen Posten. Und nein, die Juden dieses Landes sind nicht dafür zuständig. Es sei denn, man sieht es wie die zwei Herren im Jüdischen Museum damals, die meinten, die Lösung liege darin, dass die Juden Deutschlands wegziehen sollen. Dann gäbe es das Problem Jude auch nicht mehr.

Ist es das? Was folgen Taten? Wann hören Sie auf mit diesem albernen Erstaunen? Gehen Sie einfach davon aus, dass die Situation gefährlicher ist, als Sie es sich vorstellen können. Denn das, was wir sehen, ist nur die berühmte Spitze des Eisbergs, den niemand sehen will. Was die Folge ist, sollte spätestens mit dem Schicksal der Titanic bekannt sein.


Bild von LittleVisuals auf Pixabay

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