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Buchbetrachtung: November von Angelika Schmidt

Wiesbaden ist eine der Städte, in der in meiner Kindheit alles aus Gold schien. Wiesbaden war der Inbegriff des Goldenen Westens. Ich weiß nicht warum. Vielleicht spielte eine der Vorabendserien dort. Vielleicht auch erzählte jemand von der Spielbank. Es war ein mystischer Ort – den ich in diesem Frühling besuchen durfte.

Angelika Schmidt saß im Publikum, fragte Fragen zum Leben in der DDR und erwähnte, dass auch sie einst dort lebte. Später im Gespräch ohne Publikum fielen die Worte, die niemand sagen müssen sollte: Haft, Hoheneck, Ausreise. Es war eine für mich sehr berührende Begegnung und ich bin Frau Schmidt dankbar für ihr Vertrauen in mich. Ich weiß, wie schwer es fallen muss.

Angelika Schmidt war 1975 bis 1979 politische Gefangene in der DDR. Ihr „Verbrechen“: sie und ihr Mann wollten, bevor er zum Wehrdienst musste, das Land verlassen – und wurden erwischt. Es folgten Jahre in der Haft und Entlassung nicht, wie erhofft, in die BRD, sondern in die DDR.

„November. Meine Zeit als politische Gefangene im Frauengefängnis Hoheneck“ ist ein kleines Buch, ein sehr persönliches Buch und ein Buch, in dem man zwischen den Zeilen lesen muss. Eine klare deutliche Sprache, ohne zu jammern, schildern die Ereignisse, die Schmidts Leben in so jungen Jahren bestimmten. Viel wichtiger für mich ist, was sie auslässt, worüber sie nicht spricht, es womöglich nicht kann. Und gerade dadurch gewinnt das Buch für mich. Es ist keine wissenschaftliche Abhandlung und dennoch so voller Details.

Ich bin zudem dankbar, dass sie nicht nur über die Zeit im Gefängnis, sondern auch danach spricht. Ich bin tief beeindruckt von ihrer Chuzpe, nach ihrer Entlassung die StäV und auch Anwalt Dr. Vogel in Berlin aufzusuchen. Angstlos wie es scheint, doch vielleicht auch mit dem Mut der Verzweiflung, das große Gefängnis, das die DDR für sie ist, verlassen zu können. Und auch sie erzählt von der Kirche in der DDR, die eine andere Rolle spielt, die in ihrer Parallelwelt zur einigermaßen sicheren Zwischenstation wird, bis sie endlich das Land verlassen können.

Was bleibt ist das Misstrauen, das sie abhalten wird, eine Therapie zu machen, nachdem sie bei ihrem ersten Besuch in Hoheneck, offensichtlich einen Zusammenbruch erlitt. Wie suchte man Therapeuten aus? Ohne DDR Geschichte? Ohne Verherrlichung? Die erfolglose Suche brachte sie dazu, dieses Buch zu schreiben, zum Glück.
Das Misstrauen, das zu oft Bestätigung fand, als sich herausstellte, dass eine Freundin doch für die Stasi arbeitete oder wie ihr Sohn irgendwann sagte:

Und wieder eine Freundschaft, die Opfer der Stasi wurde.

November. Meine Zeit als politische Gefangene im Frauengefängnis Hoheneck; Angelika Schmidt, 2020

Ich habe das Buch an einem Tag gelesen. Geblieben ist eine Ahnung von dem, was die politischen Häftlinge der DDR durchmachen mussten, wie viel diese Zeit in ihnen hinterließ und wie wenig Aufmerksamkeit dem heute geschenkt wird. Ich kann mir zudem sehr gut vorstellen, dass das Buch für den Geschichtsunterricht geeignet ist.

Wiesbaden ist übrigens nicht golden, aber eine schöne Stadt. Wiesbaden werde ich jetzt immer mit Angelika Schmidt verbinden, die dort ein Zuhause finden konnte.

Angelika Schmidt
November. Meine Zeit als politische Gefangene im Frauengefängnis Hoheneck
Omnino Verlag
164 Seiten
ISBN: 9783958941601
Auch als Ebook erhältlich

Ein Kommentar

  1. Sabine Rieck Sabine Rieck

    Über einige verwobenen Wege kam ich zu der Information, dass meine Cousine ein Buch über dieses brisante Thema geschrieben hat. Ich habe das Buch gleich bestellt, nach der Lieferung, sofort entpackt und gelesen, ach, was sage ich da, verschlungen! Die Geschichte ist sehr gut geschrieben, und einige Passagen brachten mich zum Weinen. Es geht nicht um irgendeine Insassin, die Autorin ist mit mir verwandt und ich kenne teils ansatzweise, teils etwas genauer die familiären Zusammenhänge. Das macht um so betroffener. Sehr lesenswert und vor allem von der Autorin selbst erlebt. Da gibt es vergleichsweise eine bekannte so genannte Star-Autorin, die eine ähnliche Geschichte als Roman verfasst hat, aber hier ist sie die Erzähler, bringt wichtige Fakten nicht so authentisch rüber, weil sie jenseits der deutsch-deutschen Grenze aufgewachsen ist. Das merkt ein gelernter DDR-Bürger sofort und es wirkt gefakt, egal was die Insassin von Hoheneck tatsächlich erlebt hat.

    Lest es selbst und bildet Euch Eure eigene Meinung.
    Ich vergebe fünf von fünf Sternen!

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