Dies ist der zweite Versuch eines Textes, vielleicht auch der dritte, der vierte über Gefühle, in der Hoffnung, sie ordnen zu können. Es gelingt nicht, da ist Zynismus und Wut und Verzweiflung.
Ich bin nicht in Deutschland. Ich hatte eine Pause, hoffte ich. Eine Pause von all dem, hoffte ich. Ich irrte. Natürlich irrte ich. Denn auch, wenn ich mein Telefon abschalte, auch, wenn der Rechner im Auto bleibt, wenn ich Tage vergehen lasse, E-Mails abzurufen, so erreichen doch Nachrichten immer die, die sie erreichen sollten.
Ich weiß noch immer nicht, wohin mit mir, mit meinen Gedanken. Die Stimmung ist gedrückt, in meinem Kopf geht drunter und drüber und ich wünschte, ich hätte die Worte, besser auszudrücken und besser zu verstehen. Die letzten Tage dieser Reise stellte ich mir anders vor.
Und gestern? Ich las die Kommentare der Politik, las von Bedauern und Entsetzen und ich frage nach Taten in all den Jahren. Haben wir Taten gesehen trotz all der Warnungen, trotz des Wissens um den ansteigenden Antisemitismus, den Rassismus, des halsschwellenden Hasses auf alle und alles, was vermeintlich anders sei? Trotz des Wissens um Waffenlager der Rechten, ihrer Netzwerke und der Morde die sie begangen in all den Jahren des Landes Deutschland? Haben wir Taten gesehen, trotz den unübersehbaren Hasses, der nun auch im Bundestag sein Unwesen treibt? Haben wir etwas gesehen außer Worten und Positionen? Beauftragte, Stäbe, Reden, Vorstellungen. Gibt es in Deutschland endlich den Strafbestand des Hassverbrechens, wie es in anderen Ländern längst eingeführt sei? Haben wir das Glück, dass der gestrige Täter sich antisemitisch äußerte, damit das Verbrechen als solches benannt werden kann? Oder verschließen wir weiter das rechte Auge?
Ich wünschte wieder, die Entscheider mögen schweigen, statt sich in dem zu überbieten, was sie als wichtig erachten: „Ich habe auch etwas gesagt! Muss man, damit wir wieder zur Tagesordnung übergehen können.“ Tagesordnung? Rabbinerin Ederberg sagte, weniger Menschen seien zu Jom Kippur in die Synagoge gekommen, da ein Mann versuchte, sich Tage zuvor mit einem Messer Zugang zu verschaffen. Wann war das letzte Mal, dass Sie Angst hatten, z.B. zum Weihnachtsgottesdienst in die Kirche zu gehen, zur Taufe oder Hochzeit?
Ich wünsche mir Demut, ich wünschte Politiker*innen würden sagen, dass sie keine Worte haben und keine Antworten. Es wäre ehrlich, zumindest das. Ich wünschte, sie würden nicht Alarmzeichen sagen und dass es in Deutschland unvorstellbar schien. Die Alarmzeichen sind schon lange im Dauerton und es war vorstellbar, es war vorhersehbar und absehbar, wenn man hinsah. Vorhersehbar, wenn man sich die Fakten der Statistiken ansah, vorhersehbar, wenn man den Menschen zuhört, die im täglichen Leben damit zu tun haben. All das war schon längst eine zu nahe Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die nicht nur ich in naher Zukunft sah. Die Hallenser Polizei indes schien auf mehr als einem Auge blind.
Und ich, ich frage wieder diese eine Frage:
Was muss noch passieren, damit Ihr begreift?
Unschuldige Menschen sind gestorben, weil sie zufällig am falschen Ort waren und der Täter sein Massaker nicht verüben konnte. Zufällig, weil er zum Glück schlecht vorbereitet war, zum Glück. Das nächste Mal kann es anders kommen. Das nächste Mal dringt solch ein Mensch in eine Moschee, einen Tempel in eine Synagoge und schlachtet in seinem Hass die, die er nicht lebenswert erachtet.
Vor ein paar Jahren hatte ich ein Gespräch mit Hannes Leitlein, an den ich gestern denken musste, wie er wohl auch an mich. Wir sprachen lange und irgendwann fragte er, was geschehen müsste, damit ich das Land wirklich verließe. Ich musste nachdenken. Schon damals, denn schon da war zuviel geschehen. Und ich sagte, dass es wohl dann wäre, wenn sie unsere Einrichtungen angriffen. Vom Schänden war da schon keine Rede mehr, das war und ist Alltag in Deutschland, Synagogen, Friedhöfe – und wenn auch mit dem falschen Wort bedacht: Stolpersteine.
Gestern, gestern war er wieder da, dieser Gedanke, das erste Mal seit 2014 so intensiv, als die Nachrichten diesen stillen Ort erreichten: der Gedanke, einfach nicht zurückzufahren, nach Deutschland. Einfach hierbleiben, oder von hier woanders hin. Irgendwo, neu anfangen, verschweigen, fremd sein. Es gibt Orte, an die ich gehen kann. Ich weiß von ihnen. Und doch, ist es wirklich besser hier? Ist es wirklich besser dort? Ob nun Deutschland, Skandinavien oder Timbuktu? Er war dennoch da der Gedanke, er erschreckte mich und ist noch immer da.
Und doch weiß ich, wir werden morgen unsere Sachen packen und wieder Richtung Deutschland reisen. Wenn wir wieder da sind, wird ab Montag der Alltag beginnen und dort im Alltag, wird niemand fragen, wie geht es Dir? Es wird heißen, die/der/das wartet auf Rückruf und dieser Vertrag muss noch erstellt werden und die Ausschreibung wartet. All das surreal und doch so real. Irgendwie tröstend und doch auch wütend machend. Wenn wir wieder zurück sind in Deutschland, wird das Land, wie immer im Alltag sein und andere Themen bestimmen die Gazetten. Lasst es doch gute Themen sein. Lasst uns lesen, dass man die Kurden nicht allein lässt, lasst uns lesen, dass die Welt hilft, wo sie helfen muss, lasst uns lesen, dass in Hongkong die Demokratie siegt und nicht die Diktatur, lasst uns lesen, dass nicht mehr Menschen getötet wurden in Syrien, Afghanistan, Somalia und anderswo. Es wird nicht so sein, ich weiß es.
Nur wie soll man Alltag leben, wenn man an Maschinengewehren vorbei muss, um zu beten, wenn man den Kindern erklären muss, Waffen sind gut für Euch, weil Ihr hier nicht sicher seid, in Eurem Land. Wie soll man Alltag leben, wenn wir Politiker*innen beobachten, wie sie Reden halten und wieder Worte finden für etwas, für das es keine Worte geben darf. Wir werden beobachten, wie am Sonntagabend in Talkshows rechte Propaganda verbreitet werden darf und wir sehen schon jetzt, wie die Tat heruntergeredet wird. Glaubt wirklich irgendwer, das Wort „Einzeltäter“ würde etwas ändern? Außer die Verantwortung abzuschieben auf einen einzelnen Menschen, den man nach „Gründen“ befragt.
Das, was gestern geschah, ist eine Tragödie für dieses Land, eine Tragödie zuerst für die Familien der Opfer, eine Tragödie, weil sich jetzt, spätestens doch jetzt dieses Land klar sein muss, dass es offenen Auges dorthin gerannt ist. Es hat alle Warnungen in den Wind geschlagen, alle Statistiken weggeredet.
Das, was geschah in Halle, war nicht unvorstellbar in Deutschland, es war nur eine Frage der Zeit und gestern war diese Zeit.
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