Zum Inhalt springen

Überkommuniziert

Es ist jetzt schon mehr als ein Jahr, dass diese, meine Seiten auf Papier erschienen sind. Fast ist der Tag unbemerkt von mir vorbeigegangen, irgendwer sagte „ein Jahr“. Es ist Zeit, auf dieses Jahr zurückzublicken. Ein Jahr, das anders war, als ich es je erwartete. Vor diesem September 2018 fragte mein Lektor mich bei einem unserer so bereichernden Gespräche „Frau Grossmann, würden Sie denn auch Lesungen geben, das gehört ja dazu.“ Ich sagte, dass ich das sicher tun würde, wenn jemand Interesse hatte. Womit ich und vielleicht auch er nicht rechneten, war das Interesse, das weit über das Erwartete hinaus ging.

Ich bin dankbar für die Möglichkeiten, die sich mir bieten. Dankbar für die engagierten Menschen, die es möglich machten, dass ich durchs Land fuhr und noch immer fahre. Dankbar auch für meinen wunderbaren Verlag und die Menschen dort, die mir so viel abnehmen, was ich sonst neben der normalen Arbeit vermutlich alles nicht mehr schaffen würde. Ich weiß um das Geschenk, das ich bekam.

In diesem Jahr aber wurde ich stiller, stiller in Worten. Ich sehnte mich nach dem Schreiben und fand nicht die Ruhe dazu, nicht die Geschichten. Geschichten, die sich in meinem Kopf über Tage spinnen und dann herausfließen. Ich vermisse es und ich fragte mich, warum. Frau J. erzählte irgendwann, dass sie überkommuniziert sei, als wir uns trafen. So saßen schweigend beisammen, schauten auf die Winterstraße und ich begriff, was es war: Im letzten Jahr habe ich so viel, wie noch nie mit Menschen gesprochen, ich habe diskutiert, erklärt, geantwortet und zugehört. Ich habe meine Worte übernutzt. Am Abend dann im Zimmer flossen keine Worte mehr aus mir, auch nicht am nächsten Tag im Zug. Ich war überkommuniziert. Ich bin es noch immer. All das, was ich sagen will, habe ich gesagt, an den Abenden mit meinem Buch.

Ich weiß, dass es wieder ruhiger werden wird, dass ich wieder Worte zusammenfügen werde. Neue Geschichten sind in meinem Kopf, um auf Papier gebracht zu werden und andere Geschichten für diese Seite. Doch für den Moment, für den Moment will ich nicht das Gefühl, dass ich schreiben muss/soll/will. Das Gefühl, das ich mir selbst baue statt Sätze und das mir dem, was ich am liebsten tue im Weg steht.

Vielleicht hilft es, es auszusprechen, zu sagen und zu schreiben, was ich fühle. Vielleicht hilft es zu wissen, dass sich die Dinge ändern werden, dass die Gewissheit da ist, es noch immer das, was ich am liebsten tue: schreiben.

Ich lehne mich zurück und schaue auf die Geschichten, die ich erzählen will. Ich gönne ihnen und mir noch eine Pause. Sie laufen nicht weg. Sie sind da, sie sind in mir und sie werden aus meinen Fingern fließen, wie sie es immer taten. Vielleicht am Meer, vielleicht im Zimmer mit dem Blick auf dem Park, vielleicht auch abends im Büro. Irgendwo und irgendwann und auch irgendwie.


Foto: new life, April 2019, Juna Grossmann, Hasselblad 500cm on Ilford Delta 100, developed in Caffenol-C-M(rs)

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert