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Ich wünschte, ich könnte beten

Seit diesem Wochenende, seit Hoffnung für die Menschen in Afghanistan einer Verzweiflung wich, wünschte ich, ich könnte beten. Ich kann es nicht. Ich lese die Nachrichten, bin fassungslos, entsetzt, beschämt und unendlich hilflos.

Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so hilflos fühlte. Und ist es nicht dann, dass sich Menschen dem Gebet, einer Meditation, einer Ordnung und Struktur zuwenden, um etwas Ruhe im Chaos zu finden? Ich kann es nicht und wünsche es mir so sehr. Ich sehne mich nach dieser Ruhe, die ich sonst darin finde, in den Worten, der Melodien, der Gedanken und des Rhythmus. Ich kann nicht beten, weil es darin nur um mich ginge, mich zu beruhigen, nicht die Welt, nicht die Situation. Es würde nichts ändern.

Nichts ändern würde es am Leben der afghanischen Menschen, am Leben der Mädchen und Frauen, Jungen und Männer, die nun keine Wahl mehr haben werden in ihren Leben, keine Chance selbst zu wählen, wie sie es leben möchten, die nicht entscheiden können, dass sie das Land, ihre Heimat verlassen möchten, sondern sich unterwerfen müssen und manchmal nicht mal das können, weil ihnen das Leben genommen wird.

Es würde nicht ändern für die Menschen hier, die nichts für ihre Familien und Freunde tun können, außer bitten, hoffen und dieser unseren Regierung zuhören, die erst ein mal ein Wochenende abwarten wollte, die seit Wochen den Nachrichten und Bitten ihrer Diplomaten vor Ort nicht trauen wollte und ignoriere, dieser Regierung, die alle Warnungen ignorierte und sich durch ihr Zögen schuldig machen am Tod der Menschen, denen sie hätten helfen können und helfen müssen. Die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehenden Auges in den Tod laufen ließen, die keine Verantwortung kennt, gewissenlos handelt.

Gelernt aus der Geschichte? Nichts gelernt – oder vielleicht doch? Dass man wegkommt damit, Menschen im Stich zu lassen angesichts des Todes? Niemand wird sie zur Verantwortung ziehen, niemand über ihnen Gericht sitzen. Und nein, ich meine nicht nur Deutschland, ich meine die Welt, eine Welt, die erstmal abwarten wollte, ungläubig zuschaute, bis es zu spät war und allen Ernstes glaubte, verhandeln zu können.

Ich kann nicht beten, kann nichts tun. Ich schäme mich, Europäerin zu sein, ich schäme mich “aus dem Westen” zu sein. Ich schäme mich, Teil einer Gesellschaft zu sein, die derartig am Leben von Menschen versagte, weil ihnen Listen und egoistische Wählende wichtiger sind.

Auf Twitter gestern wurden Gebete vorgeschlagen und ich frage mich, was tut das mit Euch? Fühlt Ihr Euch besser? Hilft es Euch? Hilft es, sich in den sozialen Netzen zu echauffieren? Ich wünsche es Euch.

Was aber können wir tun, wirklich tun? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass kein Gebet dem gerecht werden kann. In ein paar Wochen sind die Jamim Noraim. Nie fühlten sich die Slichot wichtiger, dringender und gleichzeitig so unvollständig an und sie werden nichts ändern. Wir wissen, wir haben gesündigt und nichts wird das vergeben können. Wir ließen Menschen, die uns um Hilfe anflehten im Stich. Wir alle. Wir verließen uns darauf, dass Politik ihrer Pflicht nachginge und lebten unsere Leben, bis wir dem Untergang anderer in den Nachrichten zusehen konnten. Wir werden diese Schuld nicht mehr los und können sie auch nicht durch Forderungen nach Rücktritt ungeschehen machen. Wir tragen Schuld, unser Leben lang.

Ich wünschte, ich könnte beten.

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Ein Kommentar

  1. Michael Heinrich Michael Heinrich

    Danke,
    geht mir ähnlich.
    Scham Wut Zorn Trauer Fassungslosigkeit
    ein tiefes Das-kann-es-doch-nicht-mehr-geben
    trotz schlechteren Wissens – wenn sich Gebetsfragmente bilden dann
    für jene
    Verfolgt, Gefährdet, Gequält, Getötet
    kein Gebet es wäre nur
    zur Beruhigung für mich – wie Sie auch sagen

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