Ich liege wach. Liege wach wie so oft in den letzten Wochen. Nach Mitternacht ist es und morgen früh klingelt der Wecker. Zu oft findet mich der Schlaf nur drei oder vier Stunden, zu wenig für einen Körper, der Schlafmangel mit Migräne bestraft.
Dinge, die mir helfen funktionierten nicht. Helfen kann meist das Schreiben. Doch schon seit Wochen und Monaten fällt mir kaum etwas schwerer als das Schreiben. Ich sitze vor der Tastatur und nur Belanglosigkeiten fließen aus meinen Fingern. Schreibübungen, immerhin. Auftragsschreiben funktioniert, oft auf dem Punkt, doch selten auch so genau wie sonst. Ich kapituliere an Kürzungen. Weiß nicht, wie viel ich sagen soll und kann. Das unbeschwerte Schreiben gibt es schon lang nicht mehr. Auf meinem Schreibgerät klebt ein Sticker: „Write drunk, edit sober“. Angeblich ein Zitat von Hemingway. Ich trinke nicht.
Dabei ist es mir so wichtig, das Sagen, oder schreiben, wie ich es am besten kann, am besten für mich. Ich will die Dinge, die ich denke in geschriebene Worte rahmen und mir klar werden über das, was mich rührt, mich wach hält, mich verzweifeln lässt und keine Ruhe finden. Ein Mittel, das mein Leben lang wirkte von ersten Versuchen wie „Liebes Tagebuch“ bis zu kleinen Geschichten, die ich Lehrer:innen anvertraute, die nichts damit anzufangen wussten. Geschichten von diesem seltsamen schweigsamen Mädchen, das dort so ungewohnt und ungewollt deutlich war, offen, voller Emotionen, verletzt, wo es doch nie etwas sagte. Das Sagen in der Schule hatte ich mir abgewöhnt. Ich war nicht schüchtern, als ich zur Schule kam. Ich hatte einen schlechten Start, wurde schweigend gemacht. War verwirrt ob der Bestrafungen, für das, was ich wusste und konnte. Mein Aufwachsen bis dahin war ein anderes. Frei im Denken, im Erforschen, im Erobern des Wissens, gefördert wo es ging. Noch heute sind mir die Besuche in den Museen der Museumsinsel die wichtigsten Kindheitserinnerungen. Museum ist etwas, das meiner Vorstellung von Heimat am nächsten kommt, wenn schon sonst nichts.
Dann kam die Schule. Schulwechsel. Probleme. Mitschülerinnen voller mentaler und körperlicher Gewalt. Lehrpersonal, das nicht einschritt. „Der Vater ist doch in der Partei“. Die Schule oder Schulen vielmehr, eine Erinnerung, die ich gern vergessen möchte. Von der Partei bis zu den Baseballschlägerjahren. Schule ein einziger Albtraum.
Ich war ein stilles Kind, musste doch aufbegehren, wenn Dinge mir ungerecht schienen. Auch, wenn ich bald um die Folgen wusste in einem Schulsystem in einer Diktatur, haben sie das nie gebrochen, es ist und war in mir. Man muss Dinge ansprechen, man muss darüber reden. Doch wer setzte sich für mich ein? Ich lernte schnell, dass Menschen lieber den Mund halten. Dass das Problem nur die sind, die das Problem ansprechen. Über Probleme redet man nicht. Ich frage mich oft, ob dies wohl ein deutsches Phänomen ist? Vermutlich nicht.
Ich muss oft an die Schule denken, jetzt in diesen Tagen und Wochen und Monaten der Pandemie. Wie selten Schülerinnen und Schüler gefragt werden, ob sie die Schule vermissen. Dafür immer Erwachsene reden, darüber, welch psychischen Störungen Kinder zurückbehalten, wenn sie die Schule nicht besuchen. Welche psychischen Folgen durch Schule entstehen können, ist kein Thema. Doch ich sehe sie, die Kinder und Jugendlichen, denen dieses Jahr wohltun konnte, die aufblühten, dem Druck und der Gewalt der anderen nicht ausgesetzt. Ich sehe Euch. Und ich hoffe, Ihr konntet etwas heilen, Kraft sammeln.
Ich liege wach und schlafe nicht, schlafe schlecht, bin ohne Energie und erlebe wieder: Über Probleme wird nicht gesprochen. Ich muss dann und wann an einen Beitrag denken, in dem die Pressepfarrerin, fast beiläufig erwähnte, dass man sie in einer neuen Stelle ermutigte, über ein Arbeitsproblem zu sprechen, offen zu sein um gemeinsam Lösungen zu finden und wie schwer es ihr fiel, welch neue Erfahrung es war.
Ich habe wieder gesprochen. Den Mund aufgemacht, erst für andere und am Ende für mich. Das Schweigen ist lauter. Ein „es ist zuviel“ wird nicht gesehen, nicht gehört. Ich bin es leid. Ich hätte es wissen sollen, wissen müssen und irgendwie fühlt es sich an, wie damals an der Schule. Ich muss über Ungerechtigkeit reden, auf sie zeigen und sagen, hier, das geht so nicht, wir müssen das ändern, Du musst es ändern. Und wie schon in der Schule wird dem Problem der Rücken zugewandt. Nein, das ist falsch, nicht dem Problem, sondern der, die das Problem anspricht. Dem Problem selbst wird das freundliche Gesicht gezeigt, alles ist gut, lass sie reden, das geht vorbei, wenn wir lang genug nicht hören, nur so tun als ob, damit sie ruhig ist. Wir öffnen keinen Konflikt, finden keine Lösung. Was wir nicht sehen, ist nicht vorhanden, so das alte Rezept. Die Probleme verschwinden dennoch nicht, sie werden stärker und selbstbewusster. Die, die warnen aber resignieren, verlieren die Freude, die Zugewandtheit und gewinnen Zynismus und „Dienst nach Plan“. Ich will so nicht sein, doch ich bemerke, ich werde dazu. Merke, dass ich nicht mehr will, nicht mehr bezahlen will mit meiner Gesundheit, meinem Schlaf, meinen Gedanken. Doch ich weiß auch, dass ich mich nicht ändern kann und nicht ändern will, nicht ändern darf. Ich werde immer den Mund aufmachen, wenn etwas nicht stimmt, wenn wir reden müssen. Ob das Gegenüber will oder nicht. Und ja, ich merke, wenn man versucht, mich vorzuführen, mich zu täuschen. Ich merke es und spiele das Spiel mit. Doch ich notiere es mir auf meinem inneren Notizblock, er wird dicker.
Ich würde gern begreifen, wie man so leben kann. So anstrengend meine Kämpfe sind, so viel ich auch damit bezahlen, so hoffe und denke ich, dass das Karma oder was auch immer es sieht oder wenigsten die Menschen, für die ich versuche, etwas zu erkämpfen, ein Funken Gerechtigkeit. Doch wie kann man leben im Nichtstun, im Schweigen? Wie? Wie kann man ein ruhiges Leben führen, wenn man sieht, dass Menschen leiden und man selbst es so einfach lösen könnte – nur, weil man Angst hat vor einen Konflikt, der doch gar nicht gewiss ist? Ich verstehe es nicht. Ich glaube, es muss immer einen Versuch geben der Klärung, kein Wegmoderieren. Das Problem auf den Tisch legen, sezieren und miteinander Lösungen finden, gleichberechtigte Lösungen. Das Leben ist kein Konsulat und die Kunst der Diplomatie ist mehr als Lächeln und schweigen. Ich bin nicht diplomatisch. Ich bin deutlich und störe damit, das weiß ich. Doch ich sehe, dass Menschen denken, schweigen brächte die Welt ein Stück weiter: nicht einmischen, das geht Dich nichts an, ich sage dazu nichts…
Ich kann es nicht verstehen. Die Natur des Wegsehens ist mir fremd, zu fremd, um damit umgehen können. Wohl deshalb liege ich wach, auch jetzt wieder. Es ist nach ein Uhr, die letzte Nacht hatte drei unruhige Stunden, davor vier, ich brauche das doppelte, das werde ich auch heute nicht wieder kriegen. Es ist wie es ist. Ich grübel nicht. Ich werde nicht müde. Ab sieben acht Uhr abends merke ich, dass ich wach werde. Wie damals in der Schule. Die Nächte sind voller Ruhe, die Ruhe, die mein Körper, mein Geist wohl sehr genießt und braucht. Vielleicht wird daher für mich entschieden, dass ich zu anderen Zeiten schlafen soll? Doch der Wecker klingelt unerbittlich früh.
Und nun, nun kamen sie doch die Worte. Voller Erwartungen sind sie, die Buchstaben aneinandergereiht? Wird es ihr helfen, sich die Dinge von der Seele geschrieben zu haben? Nein. Das Problem, über das zu reden ist, ist weiter da, ihm wird freundlich zugelächelt, geplaudert und getan, als wäre schönster Sonnenschein. Denen, die auf das Problem zeigen, wird nicht nur der Rücken zugewandt, es wird weggegangen, sich entfernt, um Abstand zu bringen zwischen dem was man selbst als Problem empfindet und sich selbst. So ist es eine endlose Schleife und ich suche den Ausgang. Vielleicht helfen mir Worte, vielleicht das Schreiben in später Nacht an frühem Morgen und dem Funktionieren dazwischen. Leben aber, leben ist etwas anderes. Ich werde es nie begreifen und nicht lernen. Das ist der Preis. Und vielleicht auch der Grund für meine derzeitige Schreiblosigkeit, ich fühle, dass Sprechen nichts ändert, warum soll es Schreiben? Die Türen meiner Sprache verschließen sich auf allen Wegen, wollen mich schützen, so hoffe ich, doch sie sind nicht verschlossen, sie sind offen und ich weiß, ich kann hindurchgehen. Den Gedanken, dass ich das, wie so viele, nicht tun sollte, lieber stumm und wütend sein, als das Problem versuchen zu lösen, das wird mir nicht gelingen. Ob ich heute wohl schon vor zwei Uhr werde schlafen können? Finde mich, Schlaf, ich bin hier, bin da.
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