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Reden im August

Vor gut einer Woche durfte ich auf der Berliner Stolpersteinkonferenz ein paar Worte sagen. So, wie Da danach gefragt wurde, hier nun die (in etwa) Rede im Blog. Es ist nicht die letztendlich gehaltene Rede, in etwa aber sollte es stimmen. Ich sammelte zu Beginn meine Gedanken, schrieb sie auf, kürzte, ordnete um und fügte Dinge während des Redens ein, anderes ließ ich weg. Aber nun ja, hier also der aufgeschriebene Stand:

„Es ist ein Akt des Bösen, den Zustand des Bösen als unvermeidlich oder endgültig zu akzeptieren.“Rabbi Abraham Joschua Heschel, 1932

Das Judentum ist eine Religion, die Vergangenheit nicht vergisst. Jedes Jahr lesen wir die Tora einmal und jedes Jahr fragen wir, was wir daraus heute lernen können. Die Geschichte ist nicht voll von freudigen Ereignissen. Es geht um Tod, Krieg und Hoffnung. Und wir sollen lesen, lernen und interpretieren, wieder und wieder von Generation zu Generation. Le D’or va d’or. Wir leben in der Gegenwart. Wir leben heute. Oder um es salopp zu sagen: Sie wollten uns töten, wir haben überlebt, lasst uns essen.

Juden schauen in die Zukunft. Gerade am vergangenen Feiertag Tischa B’av an dem an die Zerstörung des Tempels gedacht wird. Wird das deutlich. Wir schauen in die Zukunft und fragen, was wir tun können, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Tikkun Olam – die Welt reparieren. Nicht umsonst lenkten wir unseren Blick in den letzten Jahren nicht nur lesend zum Satz: „Und einem Fremdling sollst du nicht kränken und ihn nicht bedrücken; denn Fremdlinge wart ihr im Land Mizrajim“. 36 Mal ist in der Tora davon die Rede, man solle Migranten lieben, nur ein einziges Mal wird übrigens vom viel zitierten Nachbarn gesprochen. Das gefällt nicht jedem. Die Bedeutung der Unterstützung jener, die nicht vom ersten Tag an zur eigenen engen Welt gehören, ist Essenz. Städte wurden zerstört mit ihren Menschen, jene, die den Fremden halfen blieben am Leben. Schon damals wurden vermeintlich Fremde ausgeschlossen, schon damals war es so wichtig, dagegen aufzustehen, dass es in die Schriften aufgenommen wurde. „Wir huldigen einem Gott, der mit Ungerechtigkeit unversöhnlich ist.“ sagte Rabbi Rick Jacobs letzte Woche. Auch wir müssen unversöhnlich sein.

Keine Sorge, ich halte keine Bibelrede.

Dank der sozialen Medien ist es einfach geworden zu sehen, was wir sonst in unseren Welten nicht sehen würden, nicht sehen wollen. Und dennoch wird weggesehen, relativiert, abgetan. Spätestens nach #Metwo sollte die deutsche Öffentlichkeit fähig sein, das Ausmaß des Alltagsrassismus zu begreifen. Sollte… Über Tage konnten wir lesen, wenn wir wollten. Es waren unzählige Geschichten, die durch das Netz schwebten. Was wir auch sehen konnten, war die Reaktion aus Teilen der Mehrheitsgesellschaft, die in aller Wucht losbrach. #Metwo hat etwas verändert. Ich hoffe, ich weiß es.

Ein  befreundeter Rabbiner, fragte mich Anfang des Jahres, ob ich, als wir uns kennenlernten, dachte dass ich in 20 Jahren durch Deutschland reisen würde, um Menschen zu erklären, was Antisemitismus heute ist, wie er aussieht, sich anfühlt. Ich habe gelacht. Nein, das habe ich nicht. Ich würde viel lieber anderes machen, über anderes geschrieben haben und schreiben. Doch jetzt ist die Zeit, wie sie ist.

Erst kürzlich mussten wir ernsthaft erklären, warum ein Bild von geflohenen osteuropäischen Juden im Berlin der 20 Jahre im Kaftan, Schwarzen Hüten, langen Bärten, eine Darstellung, die in ihrer Stereotypie fast nur noch vom Stürmer getoppt werden kann, keine Bebilderung für ein Geschichtsheft über deutsches Judentum sein kann und darf. Wir mussten erklären, uns rechtfertigen. Jüdische Kritiker wurden von Mitarbeitenden des Verlages in unterirdischer Weise angepampt. Entschuldigungen, die mit „wenn/falls wir jemanden beleidigt/getroffen haben beginnen, können nicht nur mir gestohlen bleiben. Sie sind unehrlich.

Nur Tage später wurde bekannt, dass aus demselben Haus eine „Dokumentation“ über Sinti und Roma gesendet wurde, die durch den Zentralrat der Sinti und Roma als klar rassistisch eingestuft wurde. Auch das wurde abgetan, man redete sich raus. Zuhören will man nicht, man weiß es besser als jene, die es betrifft. All das nur wenige Wochen nach einem Artikel über eine angebliche jüdische Verschwörung im Bundestag. Jetzt geht es nur mit den Schwaben: Es hat ein Geschmäckle.
Es ist kein Einzelfall. Zum Glück gibt es aber auch einige wenige, die zuhören, fragen und es besser machen.

Ich möchte eine Woche erleben, in dem es keine Nachrichten dieser Art gibt. Es tut etwas mit Menschen, auch, wenn sie nicht persönlich das Ziel sind. Es tut weh und das nächste Mal, ist man womöglich selbst das Ziel. Selbst Menschen, die sie bis dahin wenig mit ihrer Herkunft identifizierten, fühlen sich durch die stetigen Angriffe stärker verbunden. Ist das gut? Es sollte bessere Gründe geben. Greift man einen jüdischen Menschen an, so trifft das alle jüdischen Menschen.

Wir sind keine Maschinen, wir haben Leben. Wir haben Jobs, Hobbys, Leidenschaften. Unser Leben sollte sich nicht um Antisemitismus drehen müssen. Manch einer will seine Kinder großziehen, will einfach nur sein. Das ist schwer geworden.

Wir in Deutschland wissen, was es heißt, wenn Grenzen geschlossen werden, wir wissen was Lager bedeuten, wir in Deutschland sollten es wissen. Wir sollten die Fähigkeit besitzen, Zusammenhänge zu ziehen, Lehren aus dem, was geschah. Und die Lehre heißt nicht, wir weihen ein neues Denkmal ein und legen einmal jährlich Blumen nieder. Die Lehre ist auch nicht, auf andere Länder mit dem Finger zeigen und im eigenen Land blind sein. Rassismus und Antisemitismus ist hier mitten unter uns. Man muss keine KKK-Kapuze, kein Auschwitztattoo, keine 88 als Ohrring tragen. Man ist die freundliche Mutter des anderen Kindes im Kindergarten, die sich darüber aufregt, dass „türkische Kinder“ in der Gruppe sind, es ist der Kollege, der rassistische Witze über den anderen Kollegen macht, der andere Geburtstagsgast, der der Meinung ist, dass Israel am Antisemitismus schuld sei. Es ist um uns, in uns und wir müssen uns wehren.

Im vergangenen Jahr lernte ich dank meines Buches Deutschland kennen. Ich durfte in alle Ecken des Landes fahren und über diesen alltäglichen Antisemitismus sprechen. Während der dutzenden Veranstaltungen lernte ich engagierte Menschen kennen, die sich gegen den stärker werdenden Wind stellten, wie z.B. der Buchhändler in Tuttlingen, die Mitarbeiterin der Caritas in Chemnitz, den Leiter des Jugendzentrums in München. Ich las und sprach in Schulen, Bibliotheken, Kirchen, Volkshochschulen und Rathäusern. Ich sprach in großen Hallen, in kleinen Cafés. Ich bin dankbar für die Möglichkeiten. Die positiven Abende aber kann ich an einer Hand abzählen. Das Interesse war groß, der Drang abzuwehren, herunterreden, abzutun größer.

Der Taxifahrer lässt sich auf der Fahrt zum Veranstaltungsort darüber aus, dass die Juden ja jetzt genug Geld bekommen hätten, dass er genug hat, dass seine Kinder jetzt noch zahlen müssen.

Aber wir waren auch schon mal in Auschwitz.

Ein Mann steht mit den Worten auf, dass es so eine Veranstaltung nicht geben könne, wenn es nicht einen Antisemiten im Raum gäbe und das würde er jetzt übernehmen.

Aber morgen verlegen wir neue Stolpersteine.

Der Andere steht auf und ruft, er fühle sich durch alle äußeren Zeichen provoziert, sei es der Turban des Sikh, das Kopftuch der Muslima oder die Kippa des Juden. Alles gehöre verboten.

Aber die jungen Leute sollten verpflichtend in Gedenkstätten.

Mehrere Personen versteifen sich darauf, dass die „Juden schließlich Jesus umgebracht hätten“ und deshalb passiert das alles.

Aber wir planen neue Stolpersteine für die Stadt.

Mir wird die Beschneidung vorgeworfen, praktischerweise gleich noch weibliche Beschneidung mit dazu. Wenn ich schon mal da bin.

Aber ich habe am Denkmal Blumen niedergelegt.

Immer wieder wird mir erklärt, am Antisemitismus sei nur Israel schuld.

Aber ich habe letztes Mal auch Stolpersteine geputzt.

Und wenn nicht Israel, so sind es doch die Muslime, die Migranten in Deutschland, die eine Bedrohung sind.

Nein, sind sie nicht. Verkauft sich nur besser.

Ich sollte ziemlich oft gehen und ziemlich oft, also immer wusste man, wohin ich gehen soll und würde. Schön, dass andere für mich denken und Reiseempfehlungen aussprechen. Frau Chebli und viele andere hier kennen solche „Reiseempfehlungen“ selbst genug. Es ist interessant, wohin man uns verortet. Seltsamerweise nie dahin, wohin wir gehören, wo wir zuhause sind: Deutschland.

Ein Mann erzählt auf einer Veranstaltung von Antisemitischen Erlebnissen seiner Töchter in der Schule und der Nichtreaktion der Schulleitung. Es wird abgetan als Einzelfall. Die, die man erniedrigt, verlassen die Schule, die die erniedrigen, lernen, dass sie es ungestraft tun können. Die Narben, die aus solchen Erlebniswunden entstehen, sie bleiben ein Leben lang. Ich weiß, wovon ich spreche.

Man fragt nach dem Grund für Antisemitismus und Hass Es gibt keinen Grund für Hass PUNKT. Ich diskutieren darüber nicht.

„Ja, aber wir haben Angst“ höre ich aus dem Publikum, eine unbestimmte wage Angst. Es macht mich wütend. Niemand fragt Menschen, die vermeintlich nicht ins Bild passen, ob sie Angst haben. Sie sind der Gewalt ausgesetzt, sie müssen es, sie haben keine Wahl.

Wieso habt Ihr keine Angst, wenn Demokratiefeinde unser Land zurückwerfen wollen in Zeiten ohne gleiche Rechte für Alle. Davor müsst Ihr Angst haben und dagegen müsst Ihr aufstehen.

Was würden die Menschen denken, deren Namen auf den Stolpersteinen, auf Gedenktafeln stehen, wenn sie wüssten, dass heute wieder jüdische Menschen in der Öffentlichkeit angegriffen werden aus einem einzigen Grund: jüdisch sein. Wann hört man den Überlebenden zu, die seit Jahren warnen, die sich erinnert fühlen. Wenigstens denen.

Es geht nicht darum, wie viel Erinnerung man schafft, wie viele Steine man verlegt, wenn das Heute ausgeblendet wird. Erinnerungsarbeit kann ein Teil sein, dem Hass heute zu begegnen. Sie ist es nicht in dem Maße, in dem wir es uns wünschten. Bei manch einem mag ein Gedenkstättenbesuch funktionieren, bei anderen wiederum nicht.

Die Zahlen für Berlin und Brandenburg in Sachen Antisemitismus sind gestiegen. Für 2018 verzeichnet der RIAS, für Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf mit 226 Vorfällen die meisten Übergriffe. Das sind die Bezirke mit den meisten Stolpersteinen in vierstelliger Anzahl. Natürlich gibt es zwischen beidem keinen Zusammenhang. Das wäre absurd. Genauso absurd aber erscheint mir aber die die offensichtlich sehr aktive sichtbare Erinnerungsarbeit und gleichzeitig die überaus große Wegschaukultur.

Stolpersteine verlegen lassen, Gedenktafeln anbringen ist keine Lösung. Es macht einen nicht zu einem besseren Menschen, es ist keine Feelgoodkur, es darf es nicht sein. Nicht umsonst heißt es in der jüdischen Community, nicht mehr ganz so hinter vorgehaltener Hand, dass einem in diesem Land die toten Juden lieber sind, als die lebenden. Wir werden heute angegriffen, wieder. Manchmal möchten wir nur, dass man uns zuhört, wirklich zuhört, uns fragt, was man tun kann. Selbst, wenn wir keine Lösung haben, wäre das ein Zeichen, dass man es versuchen will und nicht, dass man wieder besser weiß, was gut für uns ist. Und ja, herrje, Juden freuen sich nicht unbedingt, über Einladungen zu Shoagedenken, Klezmerkonzerten und Israeltagen. Und stellen Sie sich vor, wir lesen mitunter lieber einen guten Krimi als die neueste Publikation zur Shoa.

Wir haben andere, alltägliche, aktuelle Probleme und Sorgen. Wir sind nicht beruflich jüdisch. Dass das nicht so einfach ist, bloggte der Journalist Richard Schneider erst kürzlich:

„Da bekam ich doch glatt eine Mail eines deutschen, nichtjüdischen Bekannten, was ich als „Jude“ zu Jeffrey Epstein sage. Hallo??? Geht’s noch? Bin ich ein Psychiater?? Epstein ist Jude. Ich auch. Also muss ich dazu Stellung nehmen – dachte sich wohl dieser nette Nichtjude, der sich selbstverständlich nicht als Antisemit sehen würde. Aber weil ich Jude bin, soll ich mich dazu verhalten müssen? Hey, an alle da draußen, die Ihr ähnlich denkt: Bin ich Euer aller Psychiater?“

Erinnerungskultur, Gedenkstättenbesuche und auch Stolpersteine sind heute zum Reflex geworden. Wenn wir dahin gehen, haben wir etwas gemacht, etwas entgegengesetzt. Zu oft wird über Streitigkeiten um Fördergelder vergessen, worum es wirklich geht, gehen sollte. Möglichkeiten werden verspielt, weil die eigene Eitelkeit im Weg ist.

Und ich frage: Was haben Sie und wir getan für die Menschen, die heute vor verschlossenen Grenzen stehen? Für die Frau, deren Name nie genannt wird, weil sie nur die „Polin ist, die bei uns putzt“, was haben Sie getan für die Frau, der auf dem Weg zum Freitagsgebet, ihr Kopftuch heruntergezerrt wird, was für den Mann, dem unterstellt wird, dass er die Liebe seines Lebens nur heiratete, um in Deutschland bleiben zu können? Was haben Sie getan, dass Menschen nicht mehr im Meer ertrinken. Was dafür, dass unsere Grenzen offen für Flüchtende sind, damit sie nicht wie einst die jüdischen Menschen Europas vor verschlossenen Grenzen standen, zurückgewiesen worden und starben? Wann haben wir das letzte Mal nicht zuerst an uns gedacht?

Manchmal denke ich, auch die Erinnerungsindustrie sollte eine Weile innehalten und jeder darin sollte sich ausschließlich mit dem hier und jetzt befassen. First revue yourself, otherwise you are not able to help others.

Ich sah und sehe sehr viel Unwissen, sehr viel Hilflosigkeit, zu viel unbegründete irrationale Ängste, zuviel Abwiegelung, zuviel Ablehnung vermeintlich Fremden, zuviel unreflektierten weißen priviligierten Egozentrismus. Und ich werde mich nicht damit abfinden. Ich sehe die Menschen, die die Dinge ändern wollen, es müssen mehr werden. Mehr Menschen, die bereit sind, Kurven zu gehen, andere Wege ohne ihre gewohnten Privilegien.

Am besten aber hat das, was ich sagen will, Julia ausgedrückt:


Foto: Mahnmal Gleis 17, Juna Grossmann,  Mai 2017, Rollei 35 TE auf Kodak Gold 200

4 Kommentare

  1. Alexander Alexander

    Normalerweise schreibe ich keine Kommentare (denn wer kommentiert, will eigentlich selbst bloggen, oder tut es sogar, traut sich aber nicht so recht… — ebenso wie der Literaturkritiker „eigentlich” ein verkappter Autor ist), aber hier hat es mich doch gereizt: Wo sind die 36 Stellen in der Tora mit den Migranten? Mich stört das Wort Migrant. Es steht definitiv: Ihr sollt den גר (ger) lieben, denn גרים (gerim) seid ihr gewesen im Land Mizraim. Und solche ähnliche Stellen gibt es ein paar, zusammen 36.

    Ich halte es für offensichtlich, dass es sich um ein Wortspiel mit dem Wort גר (Fremder, Ausländer, Konvertit) und dem Wort לגור (wohnen) handelt. Wie kann ich mir so sicher sein? Die Übersetzung des Onkelos benutzt verschiedene Wörter, die aus verschiedenen Wurzeln abgeleitet sind. Aus purer Faulheit schaue ich die Quelle nicht nach und blamiere mich durch ein vermutlich falsches auswendiges Zitat: Der גר wird als גיור(י)א, als Konvertit(en), übersetzt, aber die גרים, welche vorgeblich die Konvertiten im Plural sind, werden als דיורין, als wohnen, übertragen: Ihr sollt den Konvertiten lieben, weil ihr in Ägypten gewohnt habt.

    Übersetzt man aber wörtlich: „Ihr sollt den Fremden lieben, weil ihr fremd in Ägypten gewesen seid”, so spart man sich die Frage, wie das Wohnen in Ägypten eine besondere Vorliebe für Konvertiten hervorrufen soll. Andererseits erspart die Übersetzung des Onkelos einem die viel peinlichere Frage, die (ich will wirklich nicht über Politik reden, sondern wähle das Beispiel nur, weil es so schön prägnant ist; tatsächlich habe ich zu dem Beispiel überhaupt keine eigene Meinung) gerne gestellt wird: Ihr Juden habt doch den Holokaust überlebt, wie könnt ihr dann so brutal zu den Palästinensern sein? Anders gesagt: Ihr wart doch fremd in Ägypten, wie könnt ihr da so gemein zu euren eigenen Fremden sein?

    Zuletzt will ich zugeben, dass man die Übersetzung als Migrant doch noch ein wenig retten kann, da nämlich die Söhne Jaakows bei der ägyptischen Immigrationsbehörde angeben לגור בארץ בנו, sie seien nur gekommen, um hier zu wohnen. Allerdings macht einem die Mechilta bzw. parallel dazu die Pessach-Hagada einen Strich durch die Rechnung. Sie legt nämlich das Wort לגור als Gegensatz zu להשתקע (versinken = immigrieren) aus und erklärt, dass der Aufenthalt in Ägypten nur kurz hätte sein sollen. Die Übersetzung als Migrant kann ich insgesamt nicht befürworten, so schön sie auch klingt.

    Über den Rest kann ich allerdings nichts Schlechtes und nur Gutes sagen!

    • Nun, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist keine Predigt, es ist keine wissenschaftliche Arbeit, es ist die einigermaßen inetwa Niederschrift einer Rede, meine persönliche Interpretation des Wortes „Fremder“ heute. Dass Sie das Wort „Migrant“ stört, zeigt mir allerdings auch, dass ich etwas getroffen habe. Das war meine Absicht. Natürlich steht es so nicht wortwörtlich in der Tora, wie vieles so nicht darin steht. Allerdings stellte ich mir für die Rede die Frage, wer heute „der Fremde“ ist und wie ich das für ein Publikum in die heutige Zeit holen kann. Der/die/das Fremde ist mit in diesem Zusammenhang zu abstrakt, zu weit weg. Ich habe an z.B. Lot gedacht, wer waren die „Fremden“, wer wären sie heute? Würden wir sie erkennen?
      Manchmal sind Reden einfach nur Reden und manchmal sind die Reden auch anders, als der danach wiedergegebene Text, im Sprechen gibt es Ergänzungen, Erklärungen etc., die ich mir hier gespart habe.

      • Alexander Alexander

        Das Wort „Migrant” stört mich nicht. Man könnte (und sollte wahrscheinlich) eine lange Diskussion lostreten, wie man die Tora zu lesen hat. Ich bevorzuge, sie so zu lesen, wie sie am ehesten früher mal gemeint gewesen sein kann. Wir haben davon nicht die geringste Ahnung, unsere ältesten Zeugnisse sind wahrscheinlich (ich bin kein Schriftgelehrter!) die Septuaginta oder die halachischen Midraschim. Und diese sind viel jünger als die Tora. Wenn man also den Anspruch erhebt, „historisch” lesen zu wollen („was hat der Autor gemeint?”) im Gegensatz zu einer „modernen” Lesart („wie wirkt das Werk auf mich?”), muss man sich auf die ältesten Quellen verlassen, und Widersprüche zwischen solchen im Allgemeinen auflösen, indem man der älteren Quelle den Vorzug gibt (außer, es gibt Verdacht auf textuelle Fehler in der Quelle; oder Tendenzen; oder Missverständnisse; oder irgendwas anderes). Und man kommt trotzdem auf keinen grünen Zweig.

        Ich lese die Tora gern „historisch”, die „moderne” Lesart ist schön und gut (das ist nicht ironisch gemeint), aber ich fürchte, dass wir dem Autor nicht gerecht werden können. Anders und gemeiner (und unpräziser) gesagt: Sie ist wischi-waschi. Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass ich nur winzige Schritte zu diesem Ziel unternehmen und meinem Anspruch nie voll (ja auch nur großteils!) genügen kann. Aber halb gearbeitet ist mir lieber als ganz gemurkst, um es mal ganz grobschlächtig auszudrücken.

        Aus dieser Ecke komme ich also her. Zurück zum Text! Die Tora kennt laut der halachischen Literatur zwei Menschengruppen, die mit גר bezeichnet werden. Das ist verwirrend, weil dasselbe Wort zwei verschiedene Dinge bezeichnet. Dummerweise kann man nur aus dem Kontext erraten, was gemeint ist. (Pragmatisch betrachtet ist es allerdings seltsam, dass dasselbe Wort ohne weitere Markierung verschiedene Bedeutungen haben kann, zumal der Text ja vorgibt, ein Gesetzes-Kodex zu sein. Ich will aber später versuchen zu erklären, warum ich es auch pragmatisch für akzeptabel halte.)

        Die eine Gruppe ist der גר צדק, der Konvertit; der andere der גר תושב, der „Beisasse”. Weil es den zweiten Rechtsstatus schon die letzten paar Jahrtausende nicht gegeben hat, gibt es kein schönes deutsches Wort dafür, es ist aber offenbar so etwas wie ein Ausländer, der in Israel wohnen, aber nicht das Judentum annehmen will. Also ein Migrant!

        Der 36-fach zu liebende גר ist allerdings der Konvertit, wie in der halachischen Literatur (meinem Wissen zu Folge) unumstritten angenommen wird.

        Jetzt habe ich behauptet, dass es auch pragmatisch akzeptabel ist, diese Unterscheidung treffen zu wollen. Es ist mitunter von einem גר in den Toren die Rede, von einem גר, den man nicht unterdrücken soll, dem man die Acker-Ecke und die sonstigen solchen Abgaben überlässt, etc. Allerdings soll man ihm auch das Aas verkaufen (ich zitiere auswendig, täusche mich also möglicherweise). Er kann also kein Jude sein! Aber die Acker-Ecke ist nur für Juden gedacht (außer, dass man die Nicht-Juden nicht am Einsammeln hindert, weil man sich Schwierigkeiten mit der jeweiligen Obrigkeit sparen will), wohingegen das Aas den Juden verboten ist. Daraus lässt sich sehen, dass es um zwei verschiedene Gruppen gehen muss, von denen die eine jüdisch ist, die andere nicht. Natürlich ist dieses Argument nur annehmbar, wenn man davon ausgeht, dass die Acker-Ecke wirklich nur für Juden und das Aas wirklich nur für Nicht-Juden tauglich ist. Letzteres lässt sich textuell belegen, ersteres ist fraglich, wenn man sich nur auf den Text ohne weitere Überlieferung verlassen will. Und das Argument funktioniert auch nur dann, wenn man davon ausgeht, dass es überhaupt die Konversion als Prozess gab. Die halachische Literatur ist sich da völlig einig, die Historiker scheinen aber einhellig anderer Meinung zu sein, sodass ich ein wenig verwirrt bin und nicht so recht weiß, was ich denken soll. Bislang hat es mich noch nicht gestört ;-)

        Ich denke jedenfalls, dass „historisch” der גר an unseren 36 Stellen kein Migrant ist. Der „moderne” Leser kann in ihm alles sehen, was ihm gefällt. Insbesondere sollte auch der „moderne” Leser verstehen, dass er es mit einem Text mit juristischem Anspruch zu tun hat, sodass das Lieben des גר eine Rechtsnorm ausdrückt, also der גר eine präzise umschränkte Menschengruppe bezeichnen muss — aber welche Menschengruppe nennt der Jurist „den Fremden”? Es muss so etwas wie der Migrant sein!

        Insgesamt denke ich, dass wir gar keine Meinungsverschiedenheit haben, oder? Auf jeden Fall möchte ich nicht belehrend herüberkommen, zumal ich Sie ausweislich des Podcasts für eher belesen halte.

        • Mir war sehr schnell klar, wie Sie lesen und das ist gut und zu bestimmten Zeiten für mich nicht anders – nur eben nicht in diesem einen Redezusammenhang mit Menschen, die sehr sehr weit weg sind. Und nun, ich bin eben so erzogen, dass man so oder so lesen soll, zum einen natürlich, um die Umstände zu verstehen, unter denen Texte geschrieben worden und deren Zusammenhänge klarer einzuordnen und zum anderen zusätzlich eben für die Gegenwart. Vielleicht spielt zusätzlich eine Rolle, dass ich auch mit Geschichte und Gedenken arbeite und diesen, „Was heißt das für mich heute“ eine noch größere Rolle spielt, als es für Normalmensch üblich ist. Deshalb gehört selbstverständlich beides zu meinem Leben.

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