Viel zuwenig komme ich zum Lesen und viel zu selten fesseln mich Bücher noch, vielleicht lasse ich mich aber auch nicht genug fesseln. Regina Scheer aber hat es mit ihrem zweiten Roman wieder geschafft. Ein Roman, der ein Geschichtsbuch ist und irgendwie auch auch Plädoier für eine andere Art der Geschichtsvermittlung. Doch dazu später mehr.
Gott wohnt im Wedding erzählt viele Geschichten oder vielleicht nur eine. Die Geschichte eines Hauses im Wedding. Ein Haus, das viele Menschen hat kommen und gehen sehen, ein Haus, das seine Menschen beobachtet und das mit ihnen alt wurde. Es erzählt die Geschichten von Menschen, die im Nationalsozialismus groß wurden, und jene, die durch ihn sterben mussten, ihre Heimat verloren und nie wieder eine Heimat fanden. Es erzählt von den Roma, die jetzt im Haus wohnen, ihren Versuchen ein Leben zu machen und ihren Hoffnungen. Es erzählt die Geschichte von Manfred und Leo, die hier eine zeitlang bei Gertrud Unterschlupf fanden, sich sicher wähnten und sich so sehr irrten. Es erzählt die Paralletitäten der Geschichte der Roma und Juden, der andere Umgang mit ihnen heute, das nicht sichtbare, das gern übersehende – und auch die Absurditäten in der Erinnerungskultur.
Gott wohnt im Wedding ist auch eine Liebeserklärung, eine Liebeserklärung an einen Bezirk und seine Menschen, die nicht den Idealen entsprechen. Aber was sind schon Ideale? Es geht um Menschen, die nicht gesehen werden, Menschen, die hier strandeten und stranden, Menschen, die wieder zurückkommen. Die Figuren sind mit Liebe geschrieben, auch, wenn man einzelnen keine Liebe entgegenbringen kann. Man kennt sie alle, ist ihnen allen begegnet, irgendwann einmal im Leben.
Regina Scheer ist bekannt durch Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte. Sie beherrt ihr Metier, wie auch Machandel ist dieses Buch wohl recherchiert und lässt lernen, ohne ein Gefühl eines Lehrbuches zu vermitteln. Geradezu nebenher passieren die Dinge, die wir sonst in Zahlen und Jahren aus Lehrbüchern kennen, die dort steril erscheinen. Es ist nicht beladen mit Pomp oder dem vermeintlichen Glamour der Kutschner Romane. Gott wohnt im Wedding stellt auch Fragen. Fragen nach dem Umgang mit Geschichte, Fragen nach der oft viel zu späten Erinnerungskultur, auf die wir uns so viel einbilden.
Regina Scheer hat es nach Machandel mit dem zweiten Roman geschafft, zu meinen Lieblingsautorinnen zu gehören. Eine Autorin, der m.E. mehr Aufmerksamkeit gelten sollte, die einen besseren Schreibstil hat, aber natürlich nicht ihre eigene Geschichte verarbeitet und damit abrechnet, wie es andere tun. Regina Scheer ist auch ein Beispiel dafür, wie man Geschichte schreiben kann, abseits von Fachbüchern und Dokumentationen. Ich wünschte, ich wäre dazu in der Lage.
Eine sehr deutliche Leseempfehlung mit der Hoffnung verbunden, dass wir uns auf eine weitere Geschichte freuen dürfen. Danke für dieses großartige Buch.
Disclaimer: Weil man es ja so macht: ich habe das Buch selbst erworben, ich bin nicht gebeten worden, darüber zu schreiben. Es ist mir nur ein Anliegen, mehr Menschen dieses wunderbare Buch zu empfehlen.
Gott wohnt im Wedding, Regina Scheer, August 2018 bei Penguin als Hardcover, ebook oder Hörbuch.
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