Sie steht am Grab ihres Vaters. Gerade wurde die schlichte Kiste mit seinem Körper in die Erde hinabgelassen. Erde bedeckt sie nun. Auf dem kleinen schlichten handbeschriebenen Schild, dass sie in die Erde steckten steht sein Name, Sohn von Jizhak und Sara. Alt wurde ihr Vater. Ein volles Leben hatte er und hörte nie auf, vom Frieden zu träumen. Und nun, nun steht sie hier im Rhythmus der alten Traditionen und alles scheint als wäre es, wie es immer war. Es ist es nicht.
Sie steht am Grab ihres Vaters. Spricht mit ihren Brüdern zusammen das Kaddisch. Dieses alte Gebet, eine Lobpreisung G’ttes, das fälschlich so oft noch Totengebet genannt wird. Sie steht mit ihren Brüdern und spricht die Verse und die jüdische Welt schaut auf.
Dass sie hier stand, zusammen mit ihren Brüdern und das Kaddisch für ihren Vater spricht, dass der Name seiner Mutter auf dem kleinen Schild steht und dass sie nicht nur
Möge Gott uns und ganz Israel Frieden geben.
sagt, sondern allein ergänzt:
und allen Völkern der Erde
war nicht normal. Es war ihre Überzeugung und sein Traum. Was in den deutschen Medien wenig Aufmerksamkeit erhielt, weil seine Bedeutung zwischen all den anwesenden großen Namen vielleicht nicht gesehen wurde, ist nichtsdestotrotz beachtlich. Die Überzeugung der Tochter Shimon Peres‘, Tzvia Walden, ist die einer Reformjüdin. Sie ist Mitglied einer Reformgemeinde in Tel Aviv. In Ländern, in denen das Reformjudentum stark ist, z.B. Großbritannien und die USA ist es die Ergänzung des Kaddischs selbstverständlich, in Deutschland, das vornehmlich konservativ bis orthodox bestimmt ist, wohl eine absolute Ausnahme – selbst in liberalen Gemeinden und in Israel? Ein Ereignis.
Dass eine Tochter das Kaddisch für den Vater spricht, widerspricht den Traditionen – gerade in Israel, wo die Orthodoxie in religiösen Fragen immer mehr die Oberhand hat. So werden reformjüdische oder liberale Übertritte kaum anerkannt – nicht nur in Israel. Gern werden sie abwertend als „nicht richtige Übertritte“ kommentiert oder das Reformjudentum als „Judentum light“ abgetan. Es ist es nicht. Es hinterfragt lediglich (ganz in jüdischer Tradition) bestimmte Traditionen und Gebete. Ist es wirklich zeitgemäß, dass sich ein Mann im Gebet dafür bedankt, keine Frau geworden zu sein? Ist es wirklich zeitgemäß, dass man für den realen Wiederaufbau den Tempels und die Wiedereinführung des Opferdienstes betet? Ist es wirklich zeitgemäß, dass Frauen nicht zu einem Minjan zählen? Ist es wirklich zeitgemäß, dass man im jüdischen Namen traditionell nur Tochter oder Sohn des Vaters ist, nicht aber der Mutter? Jeder muss es für sich entscheiden und jeder sollte die Freiheit dazu haben, seinen Weg zu finden. Und davon gibt es viele im Judentum.
Sie stand am Grab ihres Vaters. Sie bat für Frieden für die ganze Welt und setzte Zeichen. Auch, wenn es jetzt schon Monate her ist, so sollte es nicht unbeachtet bleiben. Ich selbst merkte auf, als Rabbi Rick Jacobs in seinem Podcast davon erzählte. Zwar ist die Ergänzung für mich normal, auch, dass sie dort mit ihren Brüdern stand, doch für viele ist es das nicht. Die Dinge ändern sich. Immer wieder. Seit Jahrtausenden. Jeder einzelne soll hinterfragen: ist das mein Gebet? Muss ich diese Tradition ausführen? Ich möchte wieder Rabbi Wolff zitieren:
Die Gesetze sind für den Menschen da, nicht die Menschen für die Gesetze.
Und so stand sie am Grab ihres Vaters, ein Land und die Welt sah zu. Vielleicht war dies ein kleines Samenkorn, das einst zu einem großen kräftigen Baum heranwachsen würde.
Das Kaddisch der Kinder Shimon Peres‘.
Podcastfolge „What Lives after Death“ Rabbi Rick Jacobs:
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