Reisen, nicht Urlaub, nicht irgendwohin fliegen und nach zwei, drei Wochen zurück, richtig reisen! Was für ein Privileg, sich auf Orte und Menschen einzulassen, ausreichend lang bleiben zu können, um mehr zu sehen und erfahren, selbst kennengelernt zu werden, Vertrauen aufzubauen. Das kann nicht in den üblichen 25-30 Tagen Urlaub im Jahr erreicht werden. Was also, wenn man diese Sehnsucht dennoch spürt?
Mit anderen reisen mit ihren Blicken, ihren Erfahrungen, ihren Erinnerungen. Das geht mit Filmen, mit Büchern und mit: Fotografie.
In „Distant Journeys“ (Ferne Reisen) von David Katzenstein ist man auf Reisen, Reisen über die Kontinente und Jahrzehnte. Im Hirmer Verlag liest man dazu kurz aber mehr als treffend:
37 Länder hat der New Yorker Fotograf in 49 Jahren bereist und ist sich bewusst, dass es ein Privileg ist. Man spürt seine Neugier auf Menschen, auf ihre Leben, ihre Landschaften, auf Traditionen, die er schon im Buch „Ritual“ (ebenfalls Hirmer) zeigte.
Jetzt in den Distant Journeys sieht man Menschen, aber auch Landschaften ohne sie oder ihren Einfluss. Das oft starke Korn analoger Fotografie ist erlaubt im Überformat und gehört (für mich) zur Sehnsucht des Reisens, es ist nicht überrealistisch scharf. Es ist unklar, was analog, was digital ist, das wunderbar gewählte kräftige strukturierte matte Papier gleicht es aus und doch, die Ahnungen sind da. Nichts ist überrealistisch scharf abgebildet. Es gibt Bildbewegungen und vielleicht auch ganz in der Tradition Robert Capas geht er nah ran an die Menschen, ist erlaubt sich zu nähern, kann unter ihnen sein, um dann im nächsten Moment auf der nächsten Seite in der Stille und Ruhe der Landschaft versinken zu dürfen.
Immer wieder blättere ich durch das Buch, auf Entdeckungen, lese die Zeilen Paul Bowles‘ aus „The Sheltering Sky“ zwischen den Bildern – und muss gleichzeitig auf die Reisenotizen von Ralf Rothmann denken. Ruhe finde ich zwischen diesen Seiten zwischen den Fotos und frage mich gleichzeitig, wie wir – die Menschheit – wieder in Zeiten wie diese geraten konnten. Wir sollten es besser wissen. Bücher wie dieses erinnern daran, rütteln auf. Woher der Hass?
Wohl mit ähnlichen Gedanken oder Ahnungen gründete der Fotograf 2018 eine gemeinnützige Organisation „The Human Experience“, die sich auf die Fahnen schreibt, visuelle und erzählerische Inhalte zu erstellen, die Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen unterstützen, die u. a. für die Stärkung unserer Gemeinschaften einsetzen.
Woher aber auch die Neugier auf andere Leben? Sieht man David Katzenstein in einer der wenigen bewegten Bilder im Netz, spürt man seine Freundlichkeit, versteht, warum er Vertrauen aufbauen konnte. Ich frage mich, ob es daran liegt, dass er in einem Rabbinerhaushalt aufwuchs und dadurch ein tiefes Verständnis für Traditionen hat – aber eben auch eine Neugier auf anderes. Das ist wohl zu viel unterstellt und nichts ist zu finden, in dem darauf eingehen würde. Überhaupt scheint er ein angenehm diskreter Mann zu sein. Eine Qualität, die heute eine Seltenheit ist. Und so sind auch die Bilder. Katzenstein ist unter den Menschen, doch seine Kamera ist nicht im Mittelpunkt, sie ist sein Auge, seine Betrachtung, seine Sicht und zeigt gleichzeitig die Sicht auf ihn. Irgendwo sagte er, dass er eine alte Leica mit Weitwinkel nutzt. Für sein Times Square Projekt 2014 nutzt er eine digitale Canon. Doch letztlich ist das Gerät egal, das Bild zählt und der Blick der Fotograf:innen.
Distant Journeys
David Katzenstein
Hirmer Verlag, 2024
184 Seiten, 120 Abbildung, Überformat
59 Euro
Disclaimer: Ich habe den Katalog ohne Verpflichtungen kostenlos vom Verlag zur Verfügung gestellt bekommen.
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