Ich habe es versucht, ernsthaft, mehrfach. Gibt es nichts Schöneres, als sich vorlesen zu lassen? Sei es als Gefühl von Kindheitserinnerungen oder um Zeit zu sparen. Hörbücher sind das Vorlesen lassen der Neuzeit. Ich genieße es nicht, kann es nicht genießen, kann es nicht tun. Und begreife endlich, warum.
Das letzte Mal, dass ich zuhören konnte, war auf einem Flughafen, als ich Stunden auf meinen Anschlussflug wartete und zu müde war, selbst zu lesen, zu ängstlich einzuschlafen und eben jenen erwarteten Flug zu verpassen. Um vier Uhr morgens verließ ich das Haus und saß ich mit Roger Willemsen in den Ohren in Paris, London oder Kopenhagen. Das ist lange her und faktisch habe ich nie wieder daran gedacht, bis ich nach einem weiteren gescheiterten Versuch darüber nachdachte, warum ich keine Bücher höre. Ich saß in so vielen Zügen und konnte nicht lesen, da ich das draußen ebenso betrachten mochte, ich lag so viele Nächste wach und wollte kein Licht machen. Was ist es, das mich davon abhält, ein Buch, Literatur über die Ohren aufzunehmen, wo ich doch gleichzeitig so gern Podcasts höre?
Höre ich Texte, so schweife ich ab. Meine Gedanken verlieren sich an anderen Orten und ich bekomme oft zu viel nicht mehr mit. Muss wieder die Stelle suchen, an der zuletzt Aufmerksamkeit war. War das schon als Kind so beim Vorlesen? Ich kann mich nicht entsinnen. Ich kann mich nicht mal an Vorlesesituationen erinnern, kann nur die Ungeduld fühlen, die ich empfand, wenn mir vorgelesen wurde und was letztlich den Auslöser gab, mir lesen beizubringen. Mutmaßlich wurde da schon der Samen gelegt, dass ich selbst lesen wollte, musste, dass ich jedes Wort über die Augen schmecken muss, da es sonst nicht an die Stellen gelangt, die es erreichen muss, dass es nicht verschwindet im Gedankenfluss.
Und dann doch die Frage, warum ich Roger Willemsen zuhören konnte in den Stunden am Flughafen? Mag sein, so kam mir der Gedanke, musste ich ihn nie korrigieren im Lesen. Denn wie anders kann man Literatur lesen, wie sie gelesen werden soll? Wie soll man den Klang der Sprache erfühlen, wenn das Fühlen jemand anderes übernimmt, vorgibt, wie es klingt? Wie soll ich mich auf den Text konzentrieren können, wenn er anders gelesen, anders betont, anders gefühlt wird, als so, wie es in mir klingt oder im Fall Willemsen, es nur in sich ruht, alles stimmt, so wie es sein soll, es sind seine Texte, die er las, so wie er sie in Gedanken hatte. Dennoch habe ich alle seine Bücher gelesen, lesen müssen. Das Hören hätte nicht genügt.
So bleibt nichts, denn bei den Büchern bleiben, die Zeit nehmen, die früher doch mehr war. „Was tun Sie in der Zeit, in der Sie früher lasen?“ fragte der Lektor einst. Ist es so, dass der kürzere Weg zur Arbeit das Lesen stiehlt, wie ich dachte, dazu, dass ich schlecht auf dem Rad lesen könne. Oder ist es schlicht und einfach nur, dass mir die Zeit geraubt wird durch ein ständiges Einprasseln der Welt, dass ich sie mir rauben lasse, oder das Fehlen des Rückzugs. Ist es das, was die Literatur liegen ließ? Das keine Zeit für sie blieb, nur für Sachbücher? Man strebt nichts zu verpassen und mitreden zu können. Getrost zu sagen, jetzt sitze ich hier, ich lese, es ist so schwer geworden und in all der Werbewelt ist das verloren, was gut schmeckt im Lesen. Bücher schießen nach oben, deren Hauptargument ist, dass die Autor:innen anderweitig bekannt sind. Die stillen Beobachter, sie bleiben still abseits ihrer Bücher und haben so oft so weit mehr zu sagen.
Daran musste ich denken, als gestern die „Theorie des Regens“ von Ralf Rothmann beiseitelegte und mit dem Notizbuch eines Schriftstellers wieder erinnert wurde, was es ausmacht, die Worte selbst zu befühlen mit den Sinnen, den eigenen. Ohne fremde Interpretation. Nur dann kann ich sagen, das spricht mich an, das fühle ich und das fühlt mich. Ich kann es nicht, wenn andere lesen, wenn sie mit ihrem Lesen doch wieder eine andere Geschichte daraus machen, ihre Geschichte und damit eine Geschichte, die nicht die ist, die es in meinem Kopf würde, in meinen Sinnen. Nur über die Augen und ohne Geräusch kommen die Wörter und mein Gehirn zusammen. Das zu verstehen, hat gebraucht.
So wird es keine Hörbücher mehr geben, keine Versuche damit. Sie erreichen mich nicht. Nur die Stimme Roger Willemsens, zu der ich das leise Schmunzeln, den wissensdurstig Blick und die Menschenliebe sehe, die so fehlt, dieser Stimme kann ich folgen. Gleichwohl las ich ihn lieber auf Papier.
Foto: Hermann Traub
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