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Nacktschneckenwetter

Aussteigen endlich wieder frische Luft. „Nacktschneckenwetter“, denke ich, als ich die feuchte, kühle Luft rieche. Es ist diese Luft, die entsteht, wenn an warmen Tagen viel Regen fällt. Es ist dieser Geruch, der sich in der Unentschiedenheit bewegt, ob es jetzt schwülwarm oder kaltnass sein soll. Ganz so, als würde das Klima noch überlegen. Es ist dieser Geruch, der Glück bedeutet, obwohl ich doch den Sommer und die Wärme so viel lieber mag als die grauen dunklen Winter dieser Breiten.

Nacktschneckenwetter war viel, früher an der Ostsee, in den überlangen Sommern dort. Am meisten roch das Wetter die Treppe hoch zum Haus, da war auch noch die Dunkelheit unter den Bäumen die roch, die Erde, die selten der Sonne ausgesetzt war, der Berg bewachsen mit Efeu, das Haus mit den kleinen Gauben und Fenstern mit den Betten und der karierten Wäsche dahinter, der gestrengen Wirtin und den alten Zwillingen, die aus Westdeutschland kamen und immer einen Bonbon hatten. Nacktschneckenwetter war nicht Berlin, es war dort, wo die Zeit lang war und die Entdeckungen groß.

Nacktschneckenwetter hieß, sich gut festzuhalten, die Stufen waren feucht und vielleicht auch moosig, glitschig, womöglich sogar. An diesen Tagen brauchte ich viel länger die Treppe hinauf – nicht, weil sie so rutschig war, wie die Erwachsenen stets sagten, sondern weil es viel zu entdecken gab auf den Stufen zwischen dem Efeu. Noch leicht feuchte Insekten taumelten auf ihren ersten Flügen herum, manche Hummel landete auf den noch nassen Blättern des Fingerhuts, der manchmal hoch genug war, die noch frische Sonne einzufangen und bald das Gewicht der Tropfen abschüttelte. Habe ich je auf der Treppe gesessen, um zu schauen? Wohl eher gekniet und mich heruntergebeugt zu entdecken und beobachten. Wichtiger, viel wichtiger als alles, waren die Nacktschnecken auf der Treppe, die bei diesem Wetter über den feuchten Beton die Gartenseiten wechselten. Von einem Efeudunkel in das nächste. Rot waren sie, orange und schwarz und manche auch ganz hell, sie waren klein und schlank oder groß und dick oder lang… all die Dimensionen, die man so als Kind ausmacht und die die Welt doch so interessant machen Sie waren freundlich, zurückhaltend und still. Manchmal glitten ihre Bäuche aneinander, manchmal waren sie zu übermütig und fielen von einem Blatt. Sie zogen sich zurück, wenn man zu nah kam oder gar berührte – ich verstand sie gut und wollte sie wohl auch schützen in ihrer Stille. Ich fragte mich, was sie tun, wenn kein Regen sei, würden sie trocknen?

An solchen Tagen dauerten auch die anderen Wege länger. Da war dieser ganz schmale Pfad, auf dem man nur einen Fuß hinter den anderen setzen konnte, den ich doch eigentlich nicht nehmen sollte. Doch da waren auch Schnecken und das Rinnsal, das immer Wasser führte und ich war mir sicher, dass nicht nur Vögel und Säuger hier tranken, auch Schnecken müssen doch trinken, also, warum nicht dort? Dieses Rinnsal, das aus dem Nirgendwo kam und im Nirgendwo zu verschwinden schien. Lief es zum Bodden herüber?

Heute ist der schmale Pfad ein breiter Weg, an dem Häuser stehen, die nicht in die Gegend passen. Doch das wissen nur die, die von dort sind. Die anderen denken, die bunten geschnitzten Türen und die Klinker seien dort zu Hause.

Die schmale Stiege aus Beton hoch zum Haus mit den kleinen Dachfenstern unter Reet ist eine breite moderne Treppe zu einem Hotel geworden. Es gibt kein Efeu mehr und bestimmt auch keine kreuzenden Schnecken und wenn, werden die Menschen sie mit Korn und anderem töten. Die großen Bäume wurde gefällt, damit mehr Licht durchkommt und es freundlicher aussähe. Fremd sieht es aus, sehr fremd. Das Schützende des Weges ist genommen. Weder Schnecken noch Kinder schleichen noch zwischen Efeu und entdecken Natur.

Neulich, als die Luft wieder nach Schnecken roch, da war ich glücklich – wenn auch in einer anderen und viel lauteren Welt als in den langen Sommern der Kindheit. Manchmal gibt es auch heute noch kleine Nacktschneckentage auf dem Weg im Wald, doch auch sie sind selten geworden und lange nicht mehr so bunt, wie sie einst waren und auch so groß scheinen sie nicht mehr und ich kann mich nicht an den letzten erinnern. Aber wenn, dann halte ich an und setze mich zu ihnen zu den stillen Gesellen, bis sie wieder ihre Fühler ausstrecken und ihres Weges gehen und genieße ihre Anwesenheit so ruhig und zurückhaltend und einfach nur da, dass man sie fast vergessen könnte. Ich vergesse sie nicht, und auch wenn unsere Treffen so selten sind, so machen sie mich doch glücklich und ruhig, wenn ich ihre Gegenwart teilen darf.


Bild von: Der Unbestechliche, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons


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Ein Kommentar

  1. Kai Kai

    Schön beschrieben.

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