Vor vier Jahren war ich das erste Mal in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen. Jetzt am 14. April jährte sich das Massaker von Gardelegen zum 74. Mal. Ich durfte an diesem Tag die Gedenkrede halten, deren Text ich folgend hier einfüge.
Guten Tag sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Frau Sliwinska*. Bitte erlauben Sie, dass ich niemanden sonst hier namentlich nenne, doch stelle ich mir an Orten wie diesen und an Tagen wie diesem immer die eine Frage: Um wen geht es? Um wen geht es in Nachrichten und Zeitungen an Tagen wie diesen? Geht es um uns heute und darum wer hier heute mit welchem Rang erschienen ist? Oder geht es nicht viel mehr um die Menschen, die hier ermordet wurden, um ihr Vermächtnis, um die Menschen, die zunächst in Massengräbern verscharrt dem Vergessen anheimfallen sollten. Hier an diesem Ort gelang das, dank der amerikanischen Alliierten nicht – doch an wie vielen anderen Orten ist es gelungen? Wie viele Menschen haben ihre Namen, ihre Identität nicht zurückerhalten? Wie viele Familien suchen noch immer? An wie vielen Orten wird noch heute geschwiegen über das, was geschah? Noch immer wird zuviel geschwiegen und schon wieder wird geschwiegen. Es wird weggesehen, wie einst so viele wegsahen. Und es macht mich wütend und ich schäme mich – als Deutsche und als Jüdin.
Einige von uns treffen uns an Tagen der Erinnerung und gedenken der Menschen, die nicht leben durften, weil sie durch ihre Herkunft, ihre Religion, ihre sexuelle Orientierung, ihre politische Einstellung oder ihrer Behinderung so sehr gehasst wurden, dass ihnen das Recht auf Leben abgesprochen wurde. Und heute? Der Hass und die Gewalt nimmt zu.
Seit über siebzig Jahren wird in unserem Land auf die eine oder andere Weise gedacht. Es sind dies Zeichen, gedacht, dass wir nicht vergessen sollen, nicht vergessen werden und es sollten Erinnerungen für uns sein, uns bewusst zu sein wie einfach Menschen anderen Menschen unaussprechliche unvorstellbare Gräuel antun können. Wir sagen an diesen Tagen und an diesen Orten Dinge wie „Nie wieder“ und „Wehret den Anfängen“ und ich frage mich mehr und mehr, ist es dieses Heute (was wir erleben), was wir den Opfern schuldig sind, was wir uns schuldig sind? Ist es das, was wir heute erleben in seinem immer lauter werdenden halsschwellenden Hass, was unser Land sein soll? Ist es, dass wir dulden, dass wieder und immer mehr Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion oder sexuellen Orientierung, wegen absurden „Gründen“ diskriminiert, bespuckt, geschlagen und ermordet werden? Ist es, dass wir Menschen, die unseren Schutz suchen, an den Grenzen abweisen? Ist es, dass Menschen über Jahre unerkannt andere Menschen ermorden konnten, weil ihnen deren Geburtsort, deren Religion nicht entsprach und die Ermittlungen ein Beispiel des alltäglichen Rassismus, der Schlamperei und des Desinteresses ist? „Es sind ja keine Deutschen.“ Ist es, dass Menschen auf deutschen Straßen wieder ungestraft „Juden ins Gas“ rufen dürfen? Ist das dieses „Wir haben aus der Geschichte gelernt“- haben wir das? Haben wir wirklich verstanden? Wirklich gelernt? Nichts haben wir! Zu wenige sind im Alltag aktiv. Zu viele denken, Rituale wie dieses hier seien genug. Es seien der Rituale genug. Was tun wir, wenn wir heute hier fertig sind? Was tun wir, bis wir zur nächsten Gedenkveranstaltung gehen, hier oder irgendwo? Werden wir in einem Café den Blick abwenden, wenn ein Mensch auf der Straße mit einem Gürtel geschlagen wird, den Blick abwenden, wenn Obdachlose angezündet werden, wenn der Mann mit der Kippa geschlagen, die Frau mit dem Kopftuch bespuckt und getreten wird. Werden wir still sein bei all dem, was andere Menschen klein machen soll, weil sie nicht in das Bild wieder anderer passen, in das Bild jener, die immer lauter schreien, immer gewalttätiger auftreten? Werden wir schweigen, weil wir schon so sehr an den lauten Hass gewohnt sind? Wie viele werden nicht einschreiten bei Rassismus und Diskriminierung, weil es zu anstrengend ist, zu ungemütlich? Weil sie eine irrationale Angst haben? Was also tun wir hier? Was tun wir heute hier an diesem Ort? Was nehmen wir mit und was tun wir an all den anderen Tagen, an denen wir nicht offiziell der Toten gedenken? Wenn Orte wie Gardelegen, Treuenbrietzen, Sachsenhausen, Auschwitz und all die anderen die Menschheit nicht zur Vernunft brachten, was dann?
Heute an diesem Ort, an dem so unvorstellbar Grausames geschah, ist nichts vergessen. Die Verantwortung, die uns übertragen wurde aber, sie scheint mir immer mehr vergessen. Lassen Sie es nicht zu, lassen Sie uns nicht vergessen. Lassen sie uns an unsere Verantwortung nicht nur der Ermordeten und den Überlebenden gegenüber denken. Lassen Sie uns auch an diese unsere Verantwortung heute denken, unsere Verantwortung, die wir gemeinsam haben, Verantwortung als Nachfahren der Opfer, der Widerständigen, der Täterinnen und Täter und der Befreierinnen und Befreier. Unsere Verantwortung heute 2019 ist es, keine Diskriminierungen zuzulassen, unsere Verantwortung, uns laut und deutlich vor jene zu stellen, die unseren Schutz brauchen, lassen Sie uns denken an unsere Verantwortung unserer geschenkten Freiheit und Demokratie gegenüber, daran sie zu verteidigen. Lassen Sie uns denken an unsere Verantwortung, das Grundgesetz zu achten und es zu befolgen, dass hier in unserem Land niemand je wieder wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen, seiner Behinderung benachteiligt wird. Wir alle wissen, wir haben sehr viel zu tun, wenn wir zurückfahren, in unseren Alltag, in unsere Leben. Wir haben zu tun und wir dürfen nicht ausruhen.
Die Menschen, die hier starben, die hier ihre letzte Ruhe fanden, wie all die Opfer von nationalsozialistischem Wahn, haben uns etwas hinterlassen. Lassen Sie uns daran und vor allem an die Menschen denken, die hier in diesem Wahn sterben mussten, die Menschen, um die es hier geht, eine Minute an die Menschen, wegen derer wir hier zusammenkamen.
* Frau Sliwinska ist die Enkelin von Wladislaw Sliwinski. Erst seit zwei Monaten weiß die Familie, dass Wladislaw beigesetzt ist. Er starb vermutlich auf einem Todesmarsch.
Taigatrommel , via Wikimedia Commons
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