Wenige Worte: Adressat unbekannt

Viele Bücher sind geschrieben worden über den Nationalsozialismus. Fachbücher, Romane, Erinnerungen, Biografien. Doch was ist, wenn jemand nicht lesen mag, sich nicht durch Hunderte Seiten arbeiten will? Die Kunst eines Textes ist es vermutlich, alles zu Sagende in wenige Worte zu fassen.

Daher heute quasi als Nebenpart zum 640 Seiten-Buch „Die Entscheidung“von Jens Bisky, das der Kaffeehaussitzer auf meine Leseliste setze, „Adressat unbekannt“ von Kathrine Kressmann Taylor mit gerade 22 Seiten.

Eine tiefe Freundschaft, eine enge Geschäftsbeziehung, eine Rückkehr nach Deutschland im November 1932. Ein Freund in den USA, der andere nun im sich rasend verändernden Deutschland. Mit dem Land ändert sich dieser Freund, die Briefe und die Freundschaft.

Alles ist in diesen wenigen Seiten, diesen weniger Briefen. Es braucht keine langen Texte, keine Erklärungen, nichts. Es ist ein Meisterwerk, dass Katherine Kressmann Taylor 1938 veröffentlichte. Erst im Jahr 2000 erschien eine deutsche Version. Ein Buch, das ich mir schon in der Schule gewünscht hätte.

Freundschaften, die sich ändern, Menschen, die verloren gehen, aber auch die Macht der Worte. Alles Themen des Heute.

Bezeichnend, dass die ersten Veröffentlichung nicht unter dem eigentlichen Namen der Autorin erscheinen konnte, denn der Text wäre zu stark, um von einer Frau geschrieben worden zu sein. Doch vielleicht ist das gerade die Stärke. Taylor schrieb diesen Briefroman nachdem sie bemerkte, wie sich Menschen, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA zurückkehrten, von jüdischen Freunden und Freundinnen abwandten. Das zu sehen, aufzuzeigen zeugt von Mitgefühl, das wiederum noch nie sehr weit gestreut war. Auch sehen zu wollen, was in Deutschland geschah, was vorgeblich die Welt nicht gesehen haben will, gelang einer „Werbetexterin“ sehr wohl – und das im Jahr 1938, noch vor den Novemberpogromen.

Wir können lernen, wir können wahrnehmen und wir müssen erkennen – das ist mitunter schmerzhaft, aber essenziell. Es kostet Energie, ja. Aber was sollen die Menschen sagen, die heute Ziel von Anfeindungen und Hass sind? Menschen, die sich nicht dafür entscheiden, aktivistisch zu sein. Die keine Wahl haben, weil es um ihr selbst geht? Viele von uns vergessen ihre geschenkten Privilegien.

Ein paar Seiten also nur, die jeder schaffen kann – es gibt sie auch als Hörbuch, als Verfilmung. Ein paar Seiten, wenige Worte, die doch alles beinhalten.


Katherine Kressmann Taylor
Address Unknown
Adressat unbekannt
Hoffmann & Campe, 2016
ISBN: 978-3-455-40586-6


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