Musik, um zu mir zu kommen

Menschen haben viele Wege, zu sich zu kommen. Nach einem anstrengenden Tag meditiert manch einer, man eine trifft ihre Freunde, andere reden gar nicht, brauchen die absolute Stille, Regenrauschen, Waldgeräusche zum Einschlafen. Es gibt viele Wege und sie ändern sich mit der Zeit.

Bei mir ist es Musik. Musik auf den Ohren. Bach half nicht gegen Prüfungsangst, aber er ließ die Anspannung etwas weniger erscheinen, Leonard Cohen macht einen grauen Tag wohliger bringt mich wieder zu mir selbst, wenn ich mich zu verlieren drohe. Es ist nur eine Platte, fast zehn Jahre alt, nur 45 Minuten lang, die es schafft, mich wieder dahin zu rücken, wo ich zu mir komme, mich daran erinnert, wer ich bin.

Per Zufall kam ich auf ihn, der Zufall, den Spotify dann und wann spielt. Vergisst man, die Dauerschleife einzuschalten, werden einem Stücke vorgespielt, die ähnlich sein könnten oder von dem zumindest Spotify glaubt, sie wären es. So klang eines Tages „Osse Schalom“ in meinen Ohren irgendwo auf irgendeiner Straße, in irgend einem Zug. Eine Melodie der jüdischen Liturgie ohne dass ich das sonst höre. Algorithmen funktionieren eben doch nicht so gut, zum Glück. Es war keine wilde eigene Interpretation, in der ein Künstler meint, alles neu erfinden zu müssen. Er singt dieses und andere Lieder in der Melodie, in der es vielleicht in den meisten Synagogen gesunden wird, wie z.B. „Adon Olam„, auf dieser Platte schaffen es, dass ich meine zerstreuten Teile wieder einsammeln kann, wieder bei mir sein kann. Es ist ein zu hause sein für unterwegs. Irgendwann erinnerte ich mich an meinen ersten Besuch in einer Synagoge. Es war ähnlich. Damals kannte ich die Melodien nicht bewusst, aber ich war zuhause. Gonçales ist nicht der erste, der Lieder der Liturgie aufnimmt. Es gibt viele sehr verschiedene. Ich habe nie danach gesucht. Manchmal laufen sie einem über den Weg z.B. in Form von Lewandowski Festivals. Und manchmal eben als Einspielung auf Spotify.

Gerade läuft diese Platte wieder. Diese Nacht ist nicht meine, sie gibt mir keinen Schlaf. Aber etwas Ruhe kann ich so finden, bevor ich bald den neuen Tag beginne.


Leonardo Gonçalves: Avinu Malkenu, 2010

 

 

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