Der Blick aus dem Fenster

Ich sitze auf dem Stuhl. Dem Stuhl auf dem wohl niemand gern sitzt, beim Zahnarzt, schaue aus dem Fenster. Hinterhof. Fenster. Berlin. Kirche. Ich blicke auf die Rückseite der Kirche, die hier zwischen die Häuser gebaut wurde. Ein Klinkerbau. Saniert. Schön. Teure Gegend inzwischen. Ich sitze auf dem Stuhl und überlege beim Warten, was hier wohl vorher war. War edie Praxis eine Wohnung, waren es mehrere? Der geschulte Blick auf die alten Berliner Fenster kann Geschichten erzählen. Geschichten von Wänden, die einst standen und Geschichten von Grundrissen. Der Empfang war Küche und Speisekammer, Mädchenschlafplatz vielleicht… Ich überlege, wie es wohl sein mag an einer Kirche zu wohnen und auf ihren Hof zu schauen. Viele Kirchen dieser Art gibt es in der Stadt. Manchmal fallen sie nicht auf, versuchen sich fast zu verstecken in den Häuserreihen. Diese hier aber fällt auf in ihrem strahlenden klinkerrot.

Ich frage mich mehr, ich weiß mehr. Das Gemeindehaus der Kirche war Zwangsarbeitslager. Selbst hier im Haus, oben in der vierten Etage war ein Lager. Wissen die Menschen heute davon? Vor dem Haus mit der Praxis liegt ein Stolperstein. Vielleicht hat jener Max sie noch gesehen, die Zwangsarbeiter im Haus und nebenan, wenn er das Haus verließ zur Zwangsarbeit? Ob wohl jemand geholfen hat? Ihm? Den Menschen aus den anderen Ländern? Ab und an etwas Essbares aus den Fenstern geworfen, über den Zaun gereicht? Ich frage mich all diese Fragen und bin doch allein damit. Soll ich hier die Geschichte erzählen auf meinem Stuhl? Interessiert es überhaupt? Vermutlich nicht.

Ich sehe mehr, wenn ich durch meine Stadt gehe, durch irgendeine Stadt, übers Land fahre. Oft genug erkenne ich Orte, an denen Lager waren. Baracke an Baracke, gebaut für Menschen, die nach Deutschland verschleppt wurden, um hier zu arbeiten. IIrgendwann der seltsame Straßenname im Nirgendwo auf der Radtour in Mecklenburg: Holländerbaracken. Die Spuren sind da, sie sind viele und oft genug sind sie nicht so scheinbar unsichtbar wie hier an der Kirche, an der nichts auf das Lager verweist, dass hier war, mitten in der Stadt, mitten unter den Menschen, wie überall. Nirgends so viele wie in Berlin. Vergessene Menschen in Lagern. Menschen ohne Rechte. Sie lebten hier, Jahre, waren Nachbarn ohne Kontakt und ihre Spuren verlieren sich. Nichts erinnert an sie.

Ich schaue aus dem Fenster und denke nach. Die Tür öffnet sich, der Stuhl fährt zurück und ich soll meinen Mund öffnen. Mein Blick geht weg vom Fenster, von der Kirche. Ich schaue auf eine weiße Decke, kein Stuck. Und dennoch, wenn ich hier bin und auf das Gebäude schaue, weiß ich es. Wenn ich an anderen Gebäuden vorbeigehe und weiß, hier war ein Lager – ich weiß es und manchmal erzähle ich davon, wissend, dass dieser Teil der Berliner Geschichte, der Deutschen Geschichte so vielen unbekannt ist und ohne Belang. So werden sie vergessen, die Geschichten und vor allem die Menschen die sie hätten erzählen können.

Ich verlasse das Haus, drehe mich nochmal um zu Max‘ Stolperstein. Du hast in Berlin Dein Leben verloren. In der Wuhlheide, dort, wo man heute Tiere bestaunen kann. An Dich Max erinnert dieses kleine Stück Messing und vielleicht mit Dir und mir auch etwas an die anderen Menschen, deren Geschichte heute als Vogelschiss bezeichnet wird.


Dies ist nicht das einzige Lager in Kirchen. So wie es Lager in Restaurants, in Kinos, in Privathäusern gab, so gab es sie auch in Kirchen. Auch die Kirche selbst hatte für ihre Zwangsarbeiter in Berlin ein eigenes Lager, an das heute ein Gedenkort erinnert. Zu allen Berliner Lagern und überhaupt zu sogenannter ziviler Zwangsarbeit nicht nur in Berlin, kann man das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit mit seinen Ausstellungen am einzig verbliebenen Ort eines Zwangsarbeiterlagers in Barackenbau inmitten eines Wohngebiets empfehlen.


photo credit: Sergei_41 windows via photopin (license)

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