Appell. A-p-p-e-l-l. Ich sehe mich in der Schule sitzen, zweite Bank vorne am Fenster. Deutschstunde. Die Arme übereinander gelegt. Der rechte auf dem linken Arm. Melden nur im rechten Winkel mit dem rechten Arm. Kein Schnippsen, kein Armausrenken. Mechanisches Melden. A-p-p-e-l-l. Das kleine Wort mit den zwei Dopplungen. Ich mochte es, das Wort, ich mochte nicht seinen Sinn. A-p-p-e-l-l. Es wurde eingetrimmt. Eines der Wörter, die man heute kaum so eindrücklich, ausführlich lernen wird. Schon gar nicht in der ersten Klasse. A-p-p-e-l-l. Heute morgen suchte ich die „Deutsche Ansprache – Ein Appell an die Vernunft“ von Thomas Mann. A-p-p-e-l-l in seiner anderen Bedeutung. Nicht jener, die uns einst eingetrichtert wurde. A-p-p-e-l-l. Pionierappell. Fahnenappell. Morgenappell. Es musste gestanden werden. Aufgereiht nach Klasse, Größe, blaues Halstuch, rotes Halstuch, blaue Bluse – und politischer Gesinnung. Stehen. Zwei Beine auf dem Boden. Zwei P. Zwei L. A-p-p-e-l-l. Der andere Appell, er schien nicht zu existieren, dort in Reih und Glied. „Achtung! Richt Euch! Augen geradeaus!“ „Seid bereit!“ „Immer bereit“ „Freundschaft.“ „Freundschaft“ Stehen. Vorher der Streit in der Klasse, wer die Fahne tragen dürfe. Das Wimpelchen. Der Stolz. Die große Ehre. Meldung machen. A-p-p-e-l-l. Warum mussten die kleinen immer bereit sein und wofür, die großen nur befreundet. Es wurde mir nicht erklärt. Still sein. Nicht fragen.
Der große Thälmannkopf in Berlin: Appell. Das Sowjetische Ehrenmal in Treptow: Appell. Das Ehrenmal in der Schönholzer Heide: Appell. Aufgereiht. Sortiert. Gedrillt.
Ferienlager. Morgenappell. Würde das jetzt jeden Morgen so gehen? A-p-p-e-l-l. So verhasst, wie der angedrohte Frühsport. „Achtung! Richt Euch. Augen gerade aus! Sport frei!“ Der Frühsport kam nie. Glück.
Der letzten A-p-p-e-l-l meines Lebens war in Polen. Die DDR schon fast Geschichte. Zwei treten in Pionieruniform an, komplett. Etwas wehmütig wohl. Ich selbst in Verwirrung, was soll das hier? Ich frage sie hinterher, warum sie die Uniformen mit haben, warum sie sie überhaupt haben. Sie drucksen. Tragen sie nicht mehr, die ganzen langen drei Sommerwochen irgendwo in einem polnischen Wald an einem großen Fluss. Man kümmert sich wenig um uns. Wir haben mit den Mäusen zu tun, die Nachts an den Betten nagen.
A-p-p-e-l-l. Der Appellplatz der Schulen ist heute Schulhof wie überall, die Ehrenecke vergessen, abgerissen oder nie vorhanden. An manchen Orten kann man sie noch sehen, wenn man weiß, wo sie war. An manchen Orten sieht man noch, wie die Aufstellung sein musste und überzeugt sich dann später auf alten Fotos. A-p-p-e-l-l. Das Wort ist klein geworden und anders. Und bleibt dennoch so, in meinem Kopf. A-p-p-e-l-l.
Pionierappell. Fahnenappell. Morgenappell. Zweite Bank vorn am Fenster. Alles Geschichte. Das Wort aus den Fibeln verschwunden. „Zwei Beine hat es, wie Ihr, wenn Ihr steht beim A-p-p-e-l-l. Wenn Ihr steht nebeneinander. Zwei Beine neben zwei Beinen.“ Wie man es wohl heute erklärt bekommt? Keine Kinder mehr mit übereinander gefalteten Armen. Kein Melden im rechten Winkel und irgendwann ließt man in der Schule vielleicht Manns „A-p-p-e-l-l an die Vernunft“. – wenn man Glück hat.
Bild: „Berlin-Mitte.- Junge Pioniere vor Gedenkstein für getötete DDR-Grenzsoldaten mit Inschrift „Ihr Tod ist uns Verpflichtung. Uffz. Reinhold Huhn / Wm. Helmut Just / Uffz. Jörgen Schmidtchen / Uffz. Peter Göring / Uffz. Egon Schultz / Uffz. Siegfried Widera / Uffz. Rolf Henniger / Uffz. Erich Steinhauer“ Bundesarchiv, Bild 183-1986-0813-027 / Peer Grimm / CC-BY-SA 3.0
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