Es ist der erste Tag Chanukka. Draußen regnet es in die Nacht. Ich sitze in der Bibliothek. Den Rechner mit dem שלום Aufkleber habe ich nicht dabei. Ich überlege inzwischen drei Mal, wann ich ihn wo nehme. Seltsam, dass das Wörtchen Frieden auf Einige provozierend wirken soll. Wie überhaupt Vieles zu provozieren scheint, dass ich, ausführlich betrachtet, nicht als solches empfinde.
Es ist der erste Tag Chanukka. Vielleicht ist es in der Tat mein Lieblingsfest. Ich mag die Stille, die darin liegt, die für Weihnachten überstrapazierte Besinnlichkeit, die man während die Chanukkakerzen brennen eben doch findet, die ich finde. Es ist nach jüdischer Tradition ein eigentlich unwichtiges Fest. Erst mit dem Aufstieg Weihnachtens ist auch Chanukka als Familienfest gestiegen. Die Traditionen glichen sich teils an. Es ist ein Fest des Sieges, so viele davon gibt es nicht in der jüdischen Geschichte – oder eben doch. Schließlich gibt es uns noch. Der Sieg der Makkabäer, gekrönt vom (angeblichen) Wunder, das uns heute Fettiges essen lässt, dieser Sieg ist groß. Wissen wir doch, es kann gelingen und halten uns daran fest. Vielleicht geht es mir gerade in diesem Jahr so – an Chanukka.
Zurück in der Bibliothek, in der ich sitze. Zurück zu den schweren Gefühlen, die ich mit mir herumtrage und zurück zur Dunkelheit, die dieses Chanukka zu umgeben scheint. Ich wollte nichts schreiben zu dem, was da draußen vor geht, doch ich merke, wie sehr mich die Ereignisse, obwohl so erwartbar, so unüberraschend, mitnehmen. Wie traurig es mich macht. Wie sehr ich zweifle und meinen sonst so großen Optimismus mit vielen anderen Gefühlen teilen muss, die ich nicht in meinem Leben haben möchte. Und das an Chanukka, das doch so viel Hoffnung heißt. Und sind es nicht die Ereignisse an sich, sind es viel mehr die Reaktionen – oder Nichtreaktionen. Auch hier wieder: erwartbar, unüberraschend.
Ich möchte gar nicht über die Ausschreitungen – denn nichts anderes sind die Drohungen und das Verbrennen des wohl jüdischsten Symbols unserer Zeiten, des Davidsterns, sprechen. Erschreckend gewohnt bin ich das sofortige Aufnehmen einer bewussten Provokation durch überaggressive Menschen. Und sind es nicht die Ereignisse an sich, sind es viel mehr die Reaktionen – oder Nichtreaktionen. Auch hier wieder: erwartbar, unüberraschend.
Heute Abend zündet man, wie seit ein paar Jahren und wie wohl in jeder größeren Stadt weltweit, an symbolischen Orten das erste Licht der Chanukkia an, in Berlin am Brandenburger Tor. Was vor Jahren als positiv symbolische Aktion begann, ruft heute Abend „Gegenproteste“ aus. Wogegen denn? Dass wir ein Fest feiern? Dass wir unsere Religion ausüben dürfen, so wie alle Menschen unserer Gesellschaft? Dass wir frei sind? Oder sind diese genehmigten Demonstrationen nicht viel mehr einfach nur öffentlich genehmigter Rassismus? Einschränkung unserer Freiheit? Beschneidung unserer Rechte?
Ich bin traurig. So traurig, weil ich über die Jahre feststelle, es wird nicht besser werden. Es wird schlimmer werden. Die Lebensenergie konzentriert sich mehr und mehr auf Dinge, die nicht zum Schönen gehören. Mein Geist sagt, ich solle mich auf Anderes konzentrieren. Ich versuche es. Doch letztlich bin ich ein zu politischer Mensch, der Ungerechtigkeiten nicht akzeptieren kann und will, selbst wenn es mein Leben traurig macht.
Es kann doch nicht normal sein, dass man sich in einer Partnerschaft versichert, dass man sicher beim Anderen ist. Es kann doch nicht normal sein, dass ich überlege, welchen Computer ich mitnehme, weil sogar ich inzwischen eine unbestimmte Angst vor Menschen habe, die sich potentiell provoziert fühlen, oder mich schlicht und einfach nur in eine Schublade tun, in die ich nicht will.
Immer mehr habe auch ich das Gefühl, nicht dazu zu gehören, mich vielleicht doch lieber endgültig abzugrenzen, meine Blase noch kleiner zu machen. Einfach nur, um einen Raum zu haben, in dem ich ich bin. In dem ich nicht rechtfertigen muss. In dem ich nicht extra sagen muss, dass es mir an diesen Tagen nicht gut geht, nicht gut gehen kann.
Ich schrieb es schon einmal vor drei Jahren. Schauen Sie nach den Menschen in ihrem Umfeld. Fragen sie, wie es ihnen geht. Reden Sie darüber, wie es Ihnen geht. Wir reden zu wenig. Manch ein Mensch, braucht nur einen Stupser. Vielleicht wird er auch nicht sprechen. Aber das Gefühl, da ist jemand, der fühlt. Es ist so wichtig.
Und wieder, wie so oft, tönt man, dass die „Ausländer“ das Problem seien. Sie brächten den Antisemitismus nach Deutschland. Dass das Unsinn ist, wird mehr als gern vergessen. Es ist so herrlich bequem, andere zu beschuldigen, von sich weg zu weisen. „Die anderen sind es. Ich nicht.“ Die anderen hassen, die anderen diskriminieren. Ich rede vor Kameras, schreibe meine Texte „Wehret den Anfängen!“ ein gern gesagter Satz in den letzten Tagen. Und ich frage: welche Anfänge? Anfänge implizieren ein Ende, dass es außer in den selbstgerechten Köpfen mancher Menschen nie gab. Was ich nicht sehe, ist nicht da. So kann man wohl die Sichten auf den Antisemitismus in diesem Land bezeichnen. Die Empfehlungen der Expertenkommission Antisemitismus wurden geflissentlich ignoriert. Was wir nicht sehen…aber die da, die anderen, die sind böse. Die Anderen aber sind auch wir. Der Rassismus, der in dieser Abgrenzung zu Tage tritt, wird ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass der deutsche Antisemitismus nicht mit dem Sieg der Alliierten beseitigt worden wäre. Antisemitismus ist kein Problem einer Gruppe von Menschen. Es ist ein gesellschaftliches Problem. Es ist mir herzlich egal, welcher Religion ein Antisemit angehört, es ist mir egal, wo seine Großeltern noch geboren wurden. Es sind Menschen, die hier geboren wurden, die Deutsche sind, aber ebensowenig von unserer Gesellschaft als solche betrachtet werden und sich dann abgrenzen, in ihre eigenen Blasen zurück ziehen. Ich kann es sehr gut verstehen. Nur muss ich mich nicht einverstanden erklären.
In dieser Bibliothek hat sich in den Jahren seit der Eröffnung etwas Entscheidendes getan: Heute sitzen hier, am Rande der Stadt Menschen aus anderen Teilen der Welt. Sie haben Deutschkurse, arbeiten durch die Sprachhefte, schreiben Emails nach Hause. Es ist der erste Tag von Chanukka. Wir sitzen uns gegenüber lächeln uns dann und wann zu. Fühlen uns nicht provoziert und genießen vielleicht das selbe hier: die Stille. Hier am ersten Tag von Chanukka in diesen alten Mauern ist die Stille, die Besinnlichkeit.
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