Gestern begann Sukkot, das Laubhüttenfest. Normalerweise bin ich zu den Hohen Feiertagen gar nicht in Deutschland. Dieses Jahr ist es anders. Es ist der 7. Oktober. Es ist kein normaler Tag. Ich will, wie schon für „Ein Tag im Jahr“ den Tag protokollieren.
6:47 Uhr Ich reiße den Tageskalender ab. Das Foto heute stammte von mir. Young love heißt es. Liebe? Hoffnung? Was wäre mensch ohne? Der Morgen ist zu früh für mich, wie immer.
9:23 Uhr Gestern Abend in der Kälte der Nacht – wenigstens war es dieses Mal zu Erev Sukkot nicht regnerisch – spürte ich die innere Unruhe, die mich heute wohl den ganzen Tag begleiten wird. Am Morgen las ich in den Nachrichten wieder Schlagzeilen und kann mich eines gewissen Zynismus nicht erwehren:
Doch gleichzeitig habe ich mir vorgenommen, den Tag mit Schönem zu füllen. Ich weiß noch nicht, was das sein wird. Beim Bäcker kaufte ich ein Kürbisbrötchen und einen Salat. Vielleicht ist das ein guter Anfang. Die Unruhe bleibt und die Angst, dass doch wieder etwas passieren wird, wie zu Jom Kippur in Manchester. Es ist innerlich. Ich kann es gut verdecken und wundere mich doch, dass hier niemand ein Wort verliert – oder wundere ich mich wirklich noch?
11:20 Uhr: Was hilft besser, die Nerven zu beruhigen, als etwas zu reparieren – oder heute endlich abzubauen. Kabel wieder aus den Schächten ziehen, Rechner zusammenpacken, Bildschirme abschrauben. Ein Ausstellungsmöbel hat seinen Dienst geleistet. Es kann weg. Zwischendurch kommt T., er hat gleich eine Führung. Er war die letzten Wochen zu Hause in Rom. Es ist so schön, ihn wieder zu sehen und gleichzeitig etwas über die italienische Linke, ihre Verknüpfungen mit dem Katholizismus und ihre derzeitigen Aktivitäten in Sachen „General- und Nationalstreiks“ zu lernen. T. ist ein großartiger Lehrer und vor allem ein großartiger Freund. Ein Licht am Tag heute. Bei ihm muss ich nichts erklären, er versteht alles, alle Gefühle, die verworren scheinen, das Zwischendrin, die Verzweiflung, den Pessimismus der doch nicht dem Glauben an das Gute vollends weichen will.
Später kommen noch ein paar andere Guides. Es ist so schön sie zu sehen. Über die Jahre wurden sie Freunde.
14:27 Uhr: Kein Ton von irgendwem. Man freut sich über ausfallende Sitzungen (auch ich). Der Abbau anderer Ausstellungen wird besprochen. Arbeit wie immer. Kein Tag wie immer. #RememberTogether will auf verschiedenen Kanälen an den 7. Oktober 2023 erinnern. Ich habe schon die ersten Nachrichten gelesen von Veranstaltungen in denen die Mörder verherrlicht werden und ihre Opfer – nicht nur jene am 7. Oktober auf dem Gebiet Israels – wie immer ignoriert werden. Ich kann nicht verstehen, wie man so im Hass aufgehen kann. Ich muss wieder an Oded und Yochevet Lifshitz denken.
16:01 Uhr: Viel Betrieb heute. Es gab lachen am Tag. Ich bin dankbar. Mit D. spreche ich über Bücher. In diesem Jahr lese ich dank P. wieder mehr. Ich räume meinen Schreibtisch auf. Auf dem Gelände ist viel Betrieb. Ich höre Fragen an die Guides. Es ist tröstlich irgendwie, dass es das auch noch gibt. Oder bin ich zu pessimistisch? Umtanzt man nur den Elefanten im Raum? Klar, hier geht es nicht um jüdische Opfer, fast nicht. Und die Gegenwart? Spielt keine Rolle. Deutsche Erinnerungskultur eben.
16:40 Uhr: Ich komme etwas zur Ruhe. Fast habe ich das Gefühl, dass doch nichts übrig bleibt, bis ich in den Urlaub fahre. Seltsam. Im Kopf spiele ich wieder durch, was ich alles ablegen werde, bevor ich zum Flughafen fahre. An den Namen kann ich nichts ändern. Wer Ahnung hat, der wird es erkennen. Ich werde meinen Schmuck ablegen. Man erkennt ihn nicht auf Anhieb, aber hebräische Buchstaben erkennt man, auch, wenn da Ahawa, Liebe steht. Das wird niemanden interessieren. Auch der Spruch auf dem Armband bleibt in Berlin. Niemanden unnötig provozieren. Ich denke an Flugzeugentführungen, alles schon mal da gewesen. Die Angst fliegt eben doch mit. Ich kann sie nicht unterdrücken. Ich weiß von zu vielen Menschen, die kein Uber mehr fahren, die ihre Namen an der Tür ändern, überhaupt nicht mehr ihre hebräischen Namen nutzen. Ich denke an den Pädagogen damals in Spremberg, der erzählte, dass er von einem Kind in seiner Gruppe schon abgelehnt wurde, weil er Daniel hieß und Daniel doch ein jüdischer Name ist. Ich sollte meinen Geist mit anderen Dingen beschäftigen, aber es ist tief in mir. Den Deckel vom Laptop noch abdecken. Da kann ich unter die Hülle ein Blatt schieben, das sollte gehen. גם זה יעבור – Auch das wird vorübergehen steht darauf. Vermutlich mache ich mir zu viele Gedanken. Zurück zur Arbeit.
16:55 Uhr: D. verabschiedet sich früher. Er will zur Gedenkveranstaltung auf dem Bebelplatz. Ich danke ihm dafür. Und ich bin dankbar, dass er mein Kollege ist.
Ich lese ein Skript für Freitag. Ich freue mich nicht nur über den Beitrag, ich freue mich über den Inhalt. Es ist so schön, dass es das gibt, dass es Menschen gibt, die es tragen. Sukkot Mittweida wird es hoffentlich nicht nur ein Mal geben dürfen.
17:10 Uhr: E. ruft an. Seit sie in Ruhestand ist, sehen wir und seltener. Sie wurde zur Freundin. Heute schöne gute Nachrichten für sie. Ich freue mich sehr für sie. Es ist so einfach Glück zu empfinden.
17:23 Uhr: Ein anderes Telefonat. Ehrlichkeit. Hart manchmal, gut. Wir reden über den Tag, was er für mich bedeutet. Ich laufe am Fluss entlang. Der Abend ist mild. Das erste Mal an diesem Tag denke ich wirklich, ich bin von Gutem umgeben. Ich habe Freunde, richtige. H. meldet sich auch noch später. Ich bin behütet im besten Sinne und hoffe, ich kann etwas zurück geben.
19:30 Uhr: Heute bewusst keine Nachrichten. Ich sehe, dass am Bebelplatz mehr Menschen waren als erwartet. Und bestimmt an so vielen großen und kleinen Plätzen in diesem Land. Das zu sehen ist wichtig neben all dem Lärm des Hasses. Das bitte niemals vergessen. Hass ist einfach. Das Leben ist es nicht. Ich bin dankbar für das gute Essen am Abend. Ich habe Glück in meinem Leben. Wirkliches Glück.
20:49 Uhr: C. ruft an. Er war gerade in der Ausstellung zum Novafestival im Flughafen Tempelhof. Auch von ihm wird es einen Beitrag geben. Er ist noch halb in der Ausstellung und brachte viel mehr als ich erwartete. Ich weiß, dass C. gute einfühlsame Beiträge macht. Ich bin dankbar für so wunderbare Menschen, mit denen ich arbeiten darf. Ich werde die Ausstellung besuchen, wenn ich wieder da bin.
22:58 Uhr: Der Tag, vor dem ich mich so sehr fürchtete hat mir nicht den Hass gezeigt. Ich habe mich dem nicht ausgesetzt. Er hat mir das Gegenteil gezeigt. Es ist da. Vielleicht nicht dort, wo ich es vermutete, erhoffte auch, sondern an anderen Orten. Kurz denke ich: Wie habe ich das verdient? Doch das habe ich, so wie jeder Mensch dieses Planeten es verdient hat. Ein Leben mit Menschen, die nah sind. Ein Leben mit einer Zukunft, Träumen, Perspektiven sogar, einem Zuhause, Nahrung, ruhigen Schlaf in der Nacht und der Gewissheit, dass es ein morgen gibt.
Foto: Young Love von Juna Grossmann
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