Als die Solidarność mit ihren Streiks in Danzig begann, verbreitete es sich wie ein Lauffeuer. Streik war möglich. Die Lebensbedingungen für die Menschen im Ostblock waren nicht mehr hinnehmbar. Nicht mehr genug, um still zu bleiben und dennoch gut genug, nicht nur mit dem Überleben beschäftigt zu sein. Man machte sich Gedanken darüber, wie man leben will – und wie die Zukunft aussehen soll.
In der DDR boten die Kirchen diesen Freiraum, der sonst nicht möglich schien. Ich erinnere mich, dass alle Staaten des Blocks freier erschienen als bei uns in der DDR. Doch es gab diese Schlupflöcher.
Die Lügen, die nach der Katastrophe von Tschernobyl erzählt wurden, waren vielleicht für viele der letzte Tropfen. Ich selbst erinnere mich an die Gespräche der „Erwachsenen“ darüber. Die Gespräche darüber, dass es keinen Schutz gab. Dass wir nicht mehr wissen, was wir essen. Plötzlich gab es all die Dinge in den Läden, die es sonst nicht gab. Wir wussten warum, es wurde nicht mehr exportiert. Es war giftig. So gab man es den eigenen Bürgern. Sollten sie froh und still sein. Doch brauchte es nicht diese ultimative Katastrophe. Die Flüsse waren giftig, die Seen tot. Es war unübersehbar, was das Land mit seiner Natur machte. Umweltinitiativen gründeten sich im Geheimen, ohne allgemein zu sein. Es ging um konkrete Probleme, es ging um konkrete Gefahren und es ging um konkrete Lügen. Diese Initiativen waren verboten, wie die Gruppen für Menschenrechte waren. In Berlin sprechen wir in der Erinnerung von der Zionskirche, der Gethsemanekirche – doch wir vergaßen die Geschichte der Kirche in Pankow, in der in Berlin alles begann. Im Stillen. Im Starken.
Die DDR-Umweltbewegung entwickelte eine Kraft, etwas zu bewegen. Sie war Teil der Revolution, die folgen sollte. Sie war Teil der Stärke von Menschen, die nicht mehr hinnehmen wollte, was mit ihrem Land, der Natur, der Umwelt und den Menschen passierte. Sie war Teil des einmaligen Wunders in der Geschichte, dass eine Revolution ohne Waffen gelang.
Heute, dreißig Jahre später gehen junge Menschen auf die Straße, um gegen den Irrsinn der Umweltzerstörung, die durch Gier einzelner Konzerne und dem Wohlfühlgefühl, des alles-soll-bleiben-wie-es-ist-es-ist-ja-nicht-mein-Leben getragen wird. Da treten Politiker*innen auf und polemisieren gegen Demonstrationen für die Umwelt, sie polemisieren gegen Streiks von Schülerinnen und Schülern in diesem Land. Es geht nicht um das Leben der Politiker*innen, es geht um das Leben der Schüler*innen. Ein Leben, dessen Gestaltung sie tragen wollen, ein Leben, für das sie sich verantwortlich fühlen und für dessen Sorge genau die Menschen sich nicht interessierten, in deren Arbeit sie versagten, die jetzt am lautesten dagegen schreien. Sie bekommen das Schild vorgehalten, dass sie nichts taten. Das sie untätig waren im Angesicht der Katastrophe. Man „argumentiert“ mit Fehltagen. Lassen Sie mich eines sagen, meine in Wende angehäuften unentschuldigten Fehltage wurden nicht hinterfragt. Ich hatte in dem Land, in dem ich lebte keine Zukunft, ich verließ die Schule, um gegen unsinnige Unterrichtsinhalte zu demonstrieren, ich sprang über den von der Stasi bewachten Schulzaun, um die ungarische Fahne zu schwenken, um Gorbatschow zuzuwinken, um den Unterricht „Einführung in die sozialistische Produktion“ zu hinterfragen, einem Unterricht, der mit allbekannten Realitäten nichts zu tun hatte. Ich komme aus einem Land, das streikte, im Kleinen und im Großen, ich war Teil der Revolution. Und jetzt, jetzt muss ich mir ernsthaft anhören, dass man bitte in der Freizeit demonstrieren solle? Ich muss mir in diesem Land, im Land der friedlichen Revolution, anhören, dass man das schon alles machen würde und gleichzeitig diskutieren wir immer noch Braunkohle weiter zu subventionieren im Land der Autobauer, die ihre Elektroautopläne lieber in den Schubladen lassen, weil sie mit den anderen Autos mehr verdienen.
Es macht mich wütend. Ich dachte damals, als Kind, im Alter der Schülerinnen und Schüler, dass es das Größte sei, etwas in dem Land zu ändern, in dem ich lebte. Ich hoffte auf bessere Lebensbedingungen. Und nie, nie hat irgendwer nach Fehltagen gefragt. Ich hatte Glück, die Demonstrationen der DDR-Bürger*innen hatten Erfolg, sie änderten die Dinge dramatisch. Jetzt aber geht es um die Erde als Ganzes, und viele scheinen es noch immer nicht verstanden zu haben. Wir – und ich nehme mich nicht aus – haben versagt, wenn es um Fragen der Umwelt geht. Wir fühlen uns wohl in unserem Pfandsystem, in unserem, jeder Müllfitzel muss getrennt werden. Und dann? Dann nichts, dann steigt man nach dem Bioeinkauf in seinen SUV, fliegt in jeden Urlaub und fühlt sich gut. Schämen Sie sich. Schämen Sie sich als Verantwortliche, schämen Sie sich als Bürger*innen eines Landes, das es nicht schafft, seine Umweltvorgaben zu erfüllen und sich in seinem überkommenen Umweltschutzruf wohlig suhlt. Schämen Sie sich in Grund und Boden und unterstützen Sie mit jeder Faser die Menschen, die mit ihren Mitteln etwas tun wollen: Sie gehen auf die Straße, sie zeigen ihre Angst und sie zeigen, dass Sie untätig waren. Viel zu lang. Und erinnern Sie sich an die Geschichte der letzten deutschen Revolution, fühlen Sie sich auch ihr verpflichtet – nur dazu müsste man sie achten. Wir könnten eine Tradition beginnen. Eine Revolution getragen von Demonstrationen und Streiks gegen eine Diktatur war erfolgreich. Wir könnten eine weitere Revolution schaffen, die gegen die Zerstörung unserer Umwelt. Wir müssen es nur wollen und nicht erst kapitulieren, wenn alles zu spät ist.
photo credit: Links Unten Göttingen 43 via photopin (license)
Schreibe einen Kommentar