Juden weltweit sitzen zusammen zum Seder. Seder die Ordnung, die seit Jahrhunderten an den ersten beiden Pessachabenden eingehalten wird. All das in Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten. Ich bin heute auf keinem Seder. Ich mache mir meine Gedanken, ob wir nicht bei allen Vorbereitungen das Wesentliche vergessen.
Zu Pessach essen wir acht Tage ungesäuertes Brot. Wir aschkenasischen Juden verzichten zusätzlich auf Hülsenfrüchte. In der Woche vor Pessach putzte man in den meisten Haushalten wie wild, auf dass nichts Gesäuertes mehr im Haus zu finden sei. Reste verkaufte und verschenkte man. Die Vorräte an Mazzen sind aufgestockt. Das Geschirr ist gewechselt. Manch einer verlässt das Haus praktischerweise für die gesamte Zeit und geht auf Reisen. Hotels weltweit bieten extra Arrangements für Pessachreisende an. Eine eigene Industrie. Doch worum geht es eigentlich?
Flucht. Flüchtlinge. Heimatlosigkeit. Orientierungslosigkeit. Neuorientierungen. Neuanfänge. Nichts weiter. Wir lesen die über den Auszug aus Ägypten. Wir sprechen davon, welch Glück es war, der Sklaverei und Zwangsarbeit zu entfliehen. Wir essen das trockene Brot acht Tage lang, um uns an die überstürzte und eilige Flucht zu erinnern. Nicht einmal der Teig konnte gehen, um ausreichend Vorrat zu haben. Es ist die Zeit, in der wir spätestens daran erinnert werden, dass diese Fluchterinnerung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, nicht die erste Geschichte ist. Sie ist bis heute nicht die Letzte. Juden waren immer Flüchtlinge, bis heute. Wir alle, egal mit welchem Hintergrund, leben in einem Land, in dem wir jemanden kennen, der einst flüchten musste. Seien es die Großeltern, die aus Ostpreußen kamen, die Eltern, einst als Gastarbeiter gekommen und geblieben, die Angehörigen, die die DDR verließen, die Freunde, aus anderen Teilen der Welt, die ihre Länder verließen, weil sie dort keine Zukunft fanden und nicht zuletzt und umso entscheidender, all die Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil sie bombardiert, weil ihre Familien und Freunde ermordet werden, Giftgas die Menschen tötet. Sie sind auf eine ungewisse Reise, wie es einst die der Juden aus Ägypten war. Man irrte herum. Man zweifelte an der Flucht. Man zweifelte am Ziel. Zweifelte an Menschen und an G’tt.
An diesem Abend erinnern wir uns daran. An die Reise, an die Sehnsucht, die Juden durch die Jahrhunderte ausdrückten mit ihrem Wunsch „Nächsten Jahr in Jerusalem“. Heute noch besteht jenes Sehnen. Eine Hoffnung auf Frieden. Ein Glaube an eine Welt, ohne Not und ohne Flucht.
Die Sehnsucht lebt. Nicht nur an Pessach. Die vertrauten Geschichten sind nicht überkommen. Bisweilen braucht es Feiertage, um uns an die wesentlichen Dinge zu erinnern. Mitunter bedarf es eines krümeligen geschmacklosen Brotes, um uns an das Glück zu erinnern, in dem wir leben dürfen und daran, dass nicht jeder dieses Glück hat. Es liegt an uns allen, den Traum wahr werden zu lassen. Den Traum von einer besseren Welt.
Pessach Sameach.
photo credit: tim.lueddemann Lesbos: Rettungswesten-Friedhof via photopin (license)
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