Es ist ein stiller Tag im Winter. Ich arbeite in der Gedenkstätte Stille Helden. Ich mag diesen Ort. Ich arbeite gern hier. Ich arbeite gern hier, weil hier auch von den Helfern gesprochen wird. Weil hier die Geschichten gesammelt werden, die doch irgendwie so lang ein tabu in diesem Land waren. Geschichten, die erzählen, dass man kein wichtiger Mensch sein musste um zu helfen und auch Geschichten davon, dass nicht immer etwas passierte, wenn man erwischt wurde. Es ist ein Ort der Hoffnung. Ein wichtiger Ort, der Mut macht – aber macht es das wirklich noch?
An diesem Tag ist eine ältere Dame zu Gast, eine Nonne. Sie liest lang und ausdauernd all die Geschichten. Am Ende kommt sie, wei so viele Gäste zu mir, um zu sprechen. Für viele Gäste heißt dieser Ort Erkenntnis. Sie reden über das, was sie sahen – vor allem, wie wenig es doch manchmal brauchte, um zum Helfer zu werden. Nicht politische Einstellung bestimmte es, nicht Geld oder Kontakte, sondern lediglich Menschlichkeit.
Wir sprachen darüber. Auch darüber, wie selektiv die Kirchen halfen. Es war ein angenehmes Gespräch. Irgendwann fragte sie, ob ich denke, dass all das wieder passieren könne. Damals war ich überzeugt, dass es nicht so ist, dass es nie wieder so kommen würde. Diese stille Frau sagte zu mir, dass sie es für mich hoffe. Nur sie selbst glaube nicht daran.
Dieses Gespräch habe ich in mir, all die Jahren. Und heute, heute glaube ich, dass sie Recht hatte. Heute weiß ich, dass all das, was vor über achtzig Jahren geschah, heute sofort und wieder ausbrechen könnte und es schon tut. Kennt man die Geschichtsbücher, beschäftigt sich mit den Anfängen, so sieht man Parallelen. All das, als der Hass, all das ist nie verschwunden, nie verarbeiten, nie umgelenkt worden. Es wurde weggesehen, weggehöhrt. Er blieb, er blieb all die Jahre. Es geht heute (noch) nicht um Juden. Es geht um Menschen, die vermeintlich schwächer sind. Endlich Menschen, auf die man herunterspucken kann , treten, demütigen, weil man meint, man habe es selbst so erlebt, von „denen da oben“. Weil man nicht anders damit umgehen kann, als selbst zu misshandeln, erniedrigen um dieses kleines bisschen Größe zu fühlen, zu dem man aus sich heraus nicht in der Lage ist. Es ist wie der Mörder, der von schwerer Kindheit spricht. Doch das ist keine Entschuldigung, ist es nie.
Ich wurde nie zuhause geschlagen und weiß, dass Prügel in meiner Mutter Kindheit Alltag waren. Sie war sich bewusst über den Schmerz, den man niemandem antuen darf und gab es nie weiter. Ich wurde in der Schule verprügelt. Meine Kindheit wurde von einer Diktatur zerstört, ich hatte keine. Meine Familie wurde von diesem Land zerstört und ja, ich bin froh, wenn es weniger werden, von jenen noch immer überzeugten Genossen. Doch würde ich Gewalt je in Erwägung ziehen? Nein, würde ich nicht. Ich bin mir bewusst, über das, was mir angetan wurde. Ich bin mir auch bewusst über den Hass, der mir heute aus anderen Gründen entgegen schlägt. Hasse ich deshalb? Ich verachte, ja. Ich verachte die, die nicht lernen. Verachte jene, die alles schön reden wollen. Verachte jene, die kein Einsehen haben und verachte die anderen, die nie straften und wie Hasnain Kazim es so treffend formulierte:
Ich muss in einem Land leben, in dem man mir erzählt, all das war doch nicht so schlimm und ich solle mich zusammenreißen. Ich erzähle wenig aus diesen Zeiten, die doch Kindheit sein sollten, denn ein wirkliches Verstehen gibt es kaum. Man versucht hingegen gern Rassisten zu verstehen, die armen „Kinder, die so ein schlechtes Leben hatten“. Nein, ich habe kein Verständnis dafür. Ich beobachte einen Staat, der wieder darüber hinwegzugehen versucht. Ich beobachte einen Staat, in dem Opfer nicht den Schutz bekommen, den man Tätern gewärt und ich beobachte Menschen voller Hass und frage mich, was dort anders lief.
Und ich muss nach all den Jahren der Nonne recht geben. Es würde wieder passieren. Jederzeit. Es muss nur eine Gruppe von Menschen kommen, die vermeintlich unter einem steht, die man verachten kann. Der Grund ist egal. Und sie fühlen sich selbst als Opfer, stilisieren sich zum Widerstand. Mir wird schlecht und ich frage mich: warum tut keiner etwas? Wieso dürfen sie sich ungestraft auf eine Stufe stellen mit jenen, die für Menschlichkeit kämpften?
Es kann wieder passieren. Egal mit wem. Hauptsache man kann sich über Menschen stellen, weil man selbst so klein ist. Weil man selbst nicht in der Lage ist zu erkennen, dass Größe nicht durch Niedertreten anderer entsteht, sondern nur aus sich heraus. Nur dort kann man sich von der Demütigung befreien, die man einmal empfand, in sich selbst. Man ist selbst für sich verantwortlich, jeder einzelne für sich selbst. Schuld gibt es nicht bei anderen. Immer nur bei sich.
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