Ich sitze im Bus in Berlin. Mit mir eingestiegen ist eine junge Frau, die eine Kufiya trägt, auch Palituch oder Palästinensertuch genannt. Ihres ist kontrastreich neu. Der Bus fährt in Richtung meiner alten Schule. Ob sie weiß, was dort einst geschah in den Baseballschlägerjahren und dass die Leute dort teils noch immer wohnen?
Ein Raunen ging damals morgens durch die Schule, Sätze wie „hat die Zecke doch verdient“ wurden laut, ich war dieses Mal nicht gemeint. Was war passiert? Ein Mitschüler wurde beim Warten auf den Bus fast totgeschlagen, es dauerte, bis man ihn identifizieren konnte. Er trug so ein Tuch – aus anderen Gründen, als es heute stolz präsentiert wird. Seines war grau, verwaschen, zerknüllt und wohl Provokation genug, angegriffen zu werden. Bis heute bin ich überzeugt, dass die Täter:innen ebenfalls von der Schule kamen. Bis heute weiß ich, dass der Umgang damit bis heute kaum geändert wurde: Es wurde geleugnet, dass die Schule etwas damit zu tun habe. Geleugnet auch, dass der überwiegende Teil der Schülerinnen und Schüler offen rechts waren, keinen Hehl daraus machten und sich die Schule kaum darum scherte. Der Angriff auf den Jungen war der letzte Auslöser für den Exodus der letzten verbliebenen, die sich widersetzten. Auch ich wusste da bereits, dass ich die Schule wechseln würde.
Im letzten Jahr muss ich oft daran denken. Daran, wie dieses Symbol, das schon immer politisch war, seine Bedeutung änderte. Früher wusste ich, ok, die Person ist irgendwie links, hat vermutlich auch noch eine DDR-tradierte Einstellung zu Israel, muss aber nicht in jedem Fall keine Springerstiefel, … in jedem Fall keine Gefahr. Heute ist das anders. Ich beobachte die junge Frau im Bus. Sie hat keine Angst, stolz trägt sie dieses Symbol, das sie vermutlich vor ein, zwei Jahren nicht getragen hätte und sie ist sich bewusst, was sie zeigt. Wie auch die Frau im Solidaritätskonzert im letzten Jahr in der Philharmonie, die Frau, die nie klatschte, wenn israelische Künstlerinnen die Bühne betraten, die, die nicht reagierte, als Angehörige der Geiseln der Hamas die Bühne betraten. Ich wunderte mich aus dem Augenwinkel, was will sie dort. Später sah ich, dass sie bei diesem Konzert das Geld für israelisch-palästinensische Organisationen sammelte, dass ausdrücklich keine Zeichen zeigte, sondern ein Symbol des Miteinander sein sollte, auch eine Kufiya trug abgewetzt, die ihre. Ich verstand. Es tat weh an diesem Ort in diesen Tagen, als alles noch frisch war, die Drohungen gegen die jüdische Bevölkerung eindeutig waren.
Und heute? Wie hat sich dieses Symbol verändert für mich? Komplett. Ich kann darin auch kein Symbol der Solidarität mit der Bevölkerung Gazas oder Palästinas sehen. Im Gegenteil. Die Menschen leiden unter dem, was einige wenige als Recht betrachten, ihr Leben spielt keine Rolle, ihre Zukunft noch weniger. Die Herrscher über das kleine Fleckchen Land am Ufer finden es mehr als gerechtfertigt, dass auch sie sterben müssen, dass ihre Zukunft ungewiss ist. Aber hier in Deutschland, in Europa, in den USA wird das gerechtfertigt, man vergaß die grausamen Pogrome an den Menschen in Israel, kaum noch wird über diese unerträgliche Gewalt gesprochen, über das, was den Geiseln angetan wird und wie wenig ein Leben zählt, sei es nun muslimisch oder jüdisch. Stolz wird das Symbol der Gewalt, des Hasses zur Schau getragen in einem Land der Meinungsfreiheit, stolz vergessen, dass vieles, was hier möglich ist, dort nie zugelassen würde, stolz Symbole der Nationalsozialisten entfremdet und sich damit markiert. Selbst Hunde werden genötigt, mit Kufiya und rotem Dreieck herumzulaufen. Es ist egal, wie Überlebende der KZs und ihre Angehörigen dazu stehen.
Ich möchte der jungen Frau heute im Bus nichts unterstellen, aber natürlich frage ich mich, was sie tun würde, wenn sie wüsste, wer hier mit ihr im Bus sitzt. Sie verteidigt in meinen Augen die unerträgliche Gewalt, sie trägt ihre Symbole zur Schau und rechtfertigt nicht nur die Gewalt an den Menschen in Israel, sondern auch jene an den zivilen Palästinenser:innen und jene an den Jüdinnen und Juden weltweit und am explodierenden Antisemitismus.
Seit dem 7. Oktober trage ich meinen Davidstern nicht mehr. Zunächst aus Angst.
Es gibt kein mein Recht, Dein Recht. Es gibt nur einen Weg und das ist der des Miteinanders, und ich weiß, dass das geht und ich weiß ebenso, dass es schwer ist. Doch Hass, Hass ist immer eine Entscheidung und sie führt nirgends hin.
Immer wieder muss ich an Oded Lifschitz denken, der noch immer in den Händen der Hamas ist und hoffentlich noch am Leben. Oded, mit seinen über 80 Jahren, der sagte, Krieg ist einfach, da muss man nicht nachdenken, er zerstört nur. Frieden ist nie leicht, aber der einzige Weg.
Die junge Frau stieg aus dem Bus aus. Was für ein Glück sie hat, in diesen Zeiten zu leben, vor 30 Jahren, wäre sie hier nicht weit gekommen. Ich denke darüber nach, wie sich mein Herz verkrampfte, als ich das Tuch sah, wie es immer schmerzt, diese Ignoranz in Stoff zu sehen und die Gewissheit, dass diesen Menschen ein Leben wohl nichts bedeutet – in jedem Fall kein jüdisches.
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