Mein Tallit ist alt, nicht sehr alt, es ist kein Erbstück, aber sein Alter ist zweistellig und ehrlich gesagt habe ich mich nie groß darum gekümmert, ab und an die Zizit kontrolliert, geschaut, dass er geschützt in seiner Hülle ist. Ich wollte damals einen nicht zu großen Schal sein (ich bin klein) und ich mag nicht, wenn sie immer die Schultern runterrutschen oder man unter der Wolle zerfließt. Mein Wunsch damals war, er solle bunt sein. Nicht ganz so einfach vor einem viertel Jahrhundert in Deutschland, die Auswahl war – nun ja, mager.
Zugegeben, ich trage ihn (mehr) nicht oft. Doch jetzt denke ich oft daran, dass ich ihn nicht gern tragen würde und ertappte mich jüngst, wie ich die Angebote diverser Judaikaanbieter durchforste, ob etwas dabei sei, was mir zusagen würde.
Ich denke noch oft an die Sorgfalt, als H. ihren eigenen Tallit herstellte. Die Zizit selbst knotete an den Ecken ihres seidenen Schals. Ein einzigartiges Stück, wunderschön, fragil fast. Schaut man zudem in die Angebote internationaler Anbieter, erscheint so ein Tallit fast wie ein modisches Accessoire. Doch ist ein Tallit ein Tallit und in meiner Vorstellung trägt man ihn, bis er beschädigt ist – oder ihn hinterlässt.
Und ich, ich merke, dass ich mich unwohl fühle, wenn ich den meinen umlege. Ein Gefühl, dass es nie gab. Es war und ist immer etwas Besonderes, ein Schal, der das Profane abgrenzte, vielleicht ist das Gefühl so zu beschreiben? Das ist nicht mehr da, das Gefühl. Denn auf meinem Tallit wird von Jerusalem als Stadt des Friedens gezeichnet. Daran glaubte ich einmal, als die Stadt die Menschen zusammenbringt. Doch das ist vorbei, schleichend ging es voran, als die Stadt langsam aufgekauft wurde und das Leben am Schabbat immer mehr verschwand. Ich tat es ab, wirklich interessiert hat mich Jerusalem nicht. Ich hörte den Freunden zu, die das alles mit Sorge beobachteten und denke viel an N., die erst in Jerusalem wirklich glücklich wurde und zuhause war. Ich hingegen habe wenig Verbindung gespürt zu diesem Ort. Wenn N. mit ihren leuchtenden Augen von Jerusalem sprach, dann sah ich, dass die Stadt für jeden etwas anderes ist. Ich weiß nicht, ob sie noch dort lebt. Ich weiß, dass das Aufkaufen und Verdrängen inzwischen ein Vertreiben geworden ist. Menschen ziehen in Häuser, in denen bereits Menschen leben. Es ist unerträglich.
Jerusalem Stadt des Friedens? Das ist es nicht mehr. Es ist nicht mehr ein Zentrum für so verschiedene Religionen. Nicht mehr das, was es ausmachte seit tausenden Jahren. Inzwischen ist das „Stadt des Friedens“ nur noch ein Slogan wie am Haus im Nikolaiviertel in Berlin: eine leere Worthülse. Das Lebendige, das Bunte, das Leben wird ausgehöhlt und ersetzt von Gewalt. Das Miteinander, das es sein könnte, ist ein Gegeneinander gefördert von Geld und damit Macht geworden, bestimmt von einem Irrglauben der propagiert , der Messias käme wieder und vielleicht wenigen anderen, die meinen der Messias käme, wenn die Bevölkerung homogen sei. Und wenn am Ende gar der Tempel zurückkehre. Ernsthaft?
Es macht mich wütend und hilflos und dann denke ich plötzlich an meinen Tallit und sehe, dass ich nicht mehr an diese Stadt und was sie sein könnte glaube, und frage mich, wie es N. geht mit ihren leuchtenden Augen, mit ihrem Glück, in Jerusalem angekommen zu sein. Also nun ein neuer Tallit, den ich dann doch nicht trage, weil ich ihn schon lange nicht mehr anlegte, ihn nur dann und wann aus seiner Tasche hole, um zu schauen, dass keine Motte seinen Weg zu ihm fand, dass die Zizit noch in Ordnung sind? Es beschäftigt mich und denke so viel über eine Stadt nach, zu der ich mich nicht verbunden fühle und die doch immer ein Symbol des Gemeinsam sein sollte – so dachte ich einmal.
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