Neulich, irgendwann vor ein paar Wochen war ich in Münster, das erste Mal. Viel hatte ich gehört. Viel wurde ich auf den Tatort angesprochen, als ich von meiner Reise erzählte. Und eigentlich verbinde ich doch etwas anderes mit der Stadt: Ein Antiquariat, ein richtiges, eines, wie man es sich erträumt. Voll bis oben hin mit guten Büchern. Zwar war ich gebucht auf das StArtCamp Münster, doch irgendwie schwirrte dieser Laden in meinem Kopf.
Kalt war der Tag, es regnete und ein eisiger Wind wechselte sich mit Sonne ab. Nach etwas Orientierung sah ich es, endlich: das Antiquariat Solder. Und ich kam nicht ohne Auftrag. Ein Buch sollte ich finden, für Marco vom Denktagebuch. Durchgefroren betrat ich den Laden. Der Duft alter Bücher. Ich war zuhause. Herr Solder und ich hatten schon Kontakt, wir waren uns nicht unbekannt, umso schöner, sich direkt gegenüber zu stehen.
Schnell stand ich vor dem Regal mit alten Insel Büchern. Ich liebe diese kleinen bunten Bücher, die alten besonders. Fünf von ihnen verließen das Geschäft an diesem Tag, begleitet von der Wärme, die ich dank eine Tees und eines Gesprächs mit mir nahm. Meine Bücher im Arm, ihren wohligen Geruch atmend ging es zum Hotel, ich hatte Zeit.
Das Buch, dass ich zuerst las, war das kleine gelbe: Ricarda Huch: Das Judengrab, Aus Bimbos Seelenwanderungen, Erzählungen. Es begleitete mich durch regnerische Busfahrten.
Sie ließ mich nicht los, die Geschichte des Juden, der aus Liebe zu seiner Frau in deren alte Heimat zog und dort kein Leben aufbauen konnte, er, der immer der Jude war, der Andere. Vor nun mehr als 110 Jahren geschrieben, frage ich mich, was sich geändert hat. Dazwischen lag der Versuch der Vernichtung der Juden, ein neuer Staat, Einsichten und Absichten, dass vieles nie mehr geschehen möge. Aber geändert, wirklich geändert, hat sich da etwas getan? Ich weiß zu gut, dass ich in einer Blase lebe. Und seit wiederum einigen Wochen beschäftigt mich die Einsicht, wie klein diese Blase doch ist. Wie wenige Menschen es gibt, für die Religion oder Herkunft der Menschen egal ist, um unvoreingenommen zu sein, neugierig auf andere Leben. Menschen, die kein Leben zu haben scheinen und es anderen missgönnen. Wir sollten die Pfaffen (das abfällige Wort ist bewusst gewählt) aus Huchs Buch überwunden haben. Wir sollten die Bewohner des Dorfes überwunden haben. Wir sollten.
Doch was nicht überwunden wurde und sich in Aussagen nicht viel unterscheidet, ist die Frage, dass wir, die Juden, anders seien. Sind wir das wirklich? Weil wir andere Feste feiern? Weil wir nicht an einen Messias glauben, an den immer weniger glauben? Weil wir unsere Synagogen, Zusammenkünfte bewachen lassen müssen? Ich empfinde mich nicht anders. Ich empfinde auch nicht die katholischen Nachbarn, die hinduistischen Kollegen, die atheistischen Freunde anders, den muslimischen Schwager, die buddhistischen Großschwipschwapcousine…sie alle sind eine Bereicherung an Geschichten, an Sichten. Und ich wünschte, die Welt wäre ein Lagerfeuer an dem wir zusammen sitzen könnten und uns diese Geschichten erzählen. An dem wir andere Welten kennenlernen würden und uns begeistern lassen und vor allem eines feststellen: wir sind nie weit voneinander entfernt. Unsere Wünsche, Ziele, Einsichten sind die gleichen.
Ich lebe in einer Welt, einem Freundeskreis, in dem jüdische Riten nicht unbekannt sind, in dem auch anderes nicht unbekannt ist und wir alle an alle denken. Ich lebe in einer Welt, in der niemand recht hat. In einer Welt, in der der andere gemocht wird, weil er ein toller Mensch ist, nicht, weil er an etwas glaubt, etwas besitzt, etwas ist, was man toll findet. All das spielt keine Rolle. Schaue ich aus dieser Blase heraus, wird es anders.
Hat sich also etwas geändert seit dem „Judengrab“? Ich fürchte nein. Und ich fürchte, die Skepsis anderen Menschen, anderen Kulturen gegenüber wächst. Es ist legitim geworden, sich aus dem bequemen Wohlstand wieder über andere hinweg zu setzen. Es ist legitim, zu verurteilen, was man nicht kennt.
Es spielt keine Rolle, um wessen Grab es sich handelt. Ist der Mensch anders, weicht er von den eigenen engen Konventionen ab, so soll er fern bleiben: vom Friedhof, vom Ort, vom Land, vom Leben.
Wir sind auf einem schlechten Weg. Zeit abzubiegen.
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