„Alttestamentarisch“? – Kleine Sprachkunde für den Weltspiegel

Vorab: Ich gehöre noch zu der Generation, die denkt, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch seinen Auftrag und des Anspruchs an seine Mitarbeiter:innen eine verlässliche Quelle ist. Dass das nicht immer so ist, weiß man nicht erst seit dem 7. Oktober 2023. Die gestrigen Formulierungen von Thomas Aders im Weltspiegel ließen auch bei mir den Blutdruck ansteigen. Ich fragte mich, ob es keine Redaktion gibt, die noch einmal auf Texte schaut.

Im Beitrag „Iran: Wie die Regionalmacht an Kraft verliert“ bedient sich Thomas Aders Formulierungen, die seine Kompetenz infrage stellt. Daher hier eine kleine Nachhilfe in Sachen Sprachsensibilität.

Israel rächt sich mit alttestamentarischer Härte

Thomas Aders, 22. Juni 2025 in „Iran. Wie die Regionalmacht an Kraft verliert“ im Weltspiegel

Hier stockte mir kurz der Atem. Hat er das wirklich gesagt? Ja, hat er. Es ist auch im Transkript nachzulesen. Fangen wir also mit der Wortanalyse an, später kommen noch ein paar Tipps für Weiterbildungen zum Thema.

Alttestamentarisch vs. Alttestamentlich

Das obige Foto des Duden von 2006 gibt keine Auskunft zur Sprachbedeutung. Der Duden heute sagt zwar, dass beide Worte möglich seien, aber zu alttestamentarisch steht hier zudem:

Interessant wird es, wenn wir uns die Wortentwicklung ansehen. Denn das Wort alttestamentarisch ist eine relativ neue Entwicklung mit einer gezielten abwertenden Konnotation. Wenn man das als ausgebildeter Journalist, noch dazu als deutscher nicht parat hat, dem kann ich nur Absicht unterstellen.

Der Theologe Andreas Mertin weißt darauf hin, dass das Wort „alttestamentarisch“ weder im Grimm’schen Wörterbuch noch in Meyers Konversationslexika vorkommt – alttestamentlich sehr wohl schon.

Die wenig romantische Romantik

Die Romantik, die alles andere als romantisch war, brachte nicht erst mit Brentano Wortschöpfungen auf Papier – darunter auch das hier diskutierte Wort. Intention war die Herabsetzung des Judentums, der jüdischen Geschichte und der jüdischen Bücher. Vor allem, wie immer aber Ausschluss der Juden aus Kreisen, zu denen sie keinen Zugang hatten – und weiter keinen bekommen sollten. Schöne christliche Tradition sozusagen. Allerdings waren Bentano und Co., wie man inzwischen weiß, nicht die Ersten-

Nun schlummerte in meinen tief verschütteten Erinnerungen ans Germanistikstudium noch die in Zusammenhang mit Brentano nebenher erwähnte „Deutsche Tischgesellschaft„, deren Geschichte ich erst privat erkunden musste. Im Seminar fand ihre antijudaistische Gesinnung keinerlei Erwähnung. Nun ja, Romantik eben, nun ja HU eben. Irgendwas blieb doch hängen, leider zu oft nichts Gutes.

Wie dem auch sei, inzwischen ist die Wortgeschichte weiter erforscht,vor allem zurückliegender erforscht – was ihr aber keine bessere Geschichte verschafft. Sehr interessant uns selbstkritisch nachzulesen bei bereits erwähntem Andreas Mertin: Dialektik der Aufklärung. Neue Nachrichten zum Gebrauch des Wortes „alttestamentarisch“.

Gebrauch im Nationalsozialismus

”Haß und Rache von wahrlich alttestamentarischem Charakter sprechen aus diesen Plänen”

Joseph Goebbels, 27. März 1942

Oft ist nachzulesen, dass der Höhepunkt der Nutzung im Nationalsozialismus zu finden sei. Andreas Mertin ist sich heute nicht mehr so sicher, inwieweit die Nutzung des Wortes durch die Nationalsozialisten bewusst gewählt wurde. Wozu auch? Die Romantik hatte schon alles vorbereitet und das Wort „Jude“ ist bis heute für viele Menschen bereits negativ genug belegt. Anekdote nebenher: Selbst im Nationalsozialismus fand das Wort „alttestamentarisch“ noch nicht Eingang in den Duden.

Der Historiker und Linguist Matthias Heine veröffentlichte 2019 das Buch: „Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht“ im Dudenverlag. Im Interview mit Stefan Koldehoff vom 16. 07. 2019 sagt er:


„„Alttestamentarisch“, um es mal so zu nennen, ist ein bisschen vergleichbar gewesen mit dem Gebrauch, den es heute im rechtsradikalen, rechtspopulistischen Sprachgebrauch von „die Ostküste“ gibt. Es ist ein Begriff, mit dem man andeutet, dass es sich um Juden handelt, die da vorgehen, aber man möchte es vielleicht so nicht sagen oder man hat nach einem Synonym gesucht. Und das lässt sich ganz deutlich nachweisen in Reden von Hitler, in Reden von Goebbels, dass die Nazis von diesem Wort einen ganz spezifischen Gebrauch gemacht haben, sie sprachen dann immer vom alttestamentarischen Hass, mit dem die Alliierten Deutschland verfolgen würden, und wollten damit natürlich andeuten, dass dahinter irgendwelche jüdischen Verschwörungen und Mächte stecken.“

Matthias Heine, „Sprache im Dienst der Propaganda“, 16.07.2019, Deutschlandfunk

Mit Codes oder Bildern, die nicht so ganz offensichtlich erscheinen, sollten wir uns inzwischen auskennen – oder auch nicht. Erst kürzlich sprach Holger Friedrich, selbst ernannter Verleger einer Berliner Tageszeitung vom „Amerikanischen Ostküstengeldadel“ und meinte damit wohl die Erben der einst renommierten und jetzt durch ihn verschandelten „Weltbühne“. Aber das ist ein anderes Thema. Die vor wenigen Jahren nur für wenige wirklich erkennbaren Codes sind inzwischen gängiger Sprachverwendung. Wir haben Euch gewarnt.

Fakt ist: Die Verwendung des Wortes „alttestamentarisch“ geht immer mit der Herabsetzung der jüdischen Geschichte und des Judentums per se einher und muss hier im Falle von Aders und der Redaktion auch als bewusste Wortwahl angesehen werden. Denn die Diskussion gibt bereits so lang und so ausführlich in so vielen Redaktionen – unterstützt von so vielen Leser:innenbriefen und Kommentaren, dass es nicht als unbewusst angesehen werden darf. Sprachsensibilität, gerade in diesem Zusammenhang war schon immer wichtig und eine gute Redaktion von Texten kann einiges an Ärger ersparen.

Auge um Auge? Die Sache mit der Rache

Allen voran und schon zwei Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel, die von Aders lediglich als: „Die Hamas überfällt Israelis in Grenznähe zum Gazastreifen.“ beschrieben wird, ging es in der Medienlandschaft mit diesem christlich geprägten Bildern von „jüdischer Rachsucht“ los. Ich las die ersten Kommentare von „Auge um Auge“ durch Theolog:innen im Netz.

Auch Aders verfängt in diesen Stereotypen und transportiert sie weiter. Israel verteidigt sich nach einem Angriff mit mehr als 1.200 Ermordeten, Vergewaltigten, Verletzten und 250 Entführten nicht. Israel „rächt“ sich in den Augen Aders‘. Hier dringend der Hinweis auf den Podcast der evangelischen Akademie Berlin. Im Podcast wird alles gesagt, was zur Frage des Verteidigungsrechtes und die Falschdeutung von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ in Geschichte und Gegenwart zu sagen gibt.

Es ist nicht ohne Grund, dass ich heute nur Quellen mit christlichem Hintergrund empfehle. Meine Erfahrung, die Dinge aus jüdischer Sicht darzulegen, ist dergestalt, dass sie nicht zählt, da vermeintlich voreingenommen. Zum Glück gibt es inzwischen hinreichend kirchliche Akteur:innen, die hier selbstkritisch und sehr kenntnisreich entsprechende Arbeit leisten und denen mal wohl kaum unterstellen kann, voreingenommen diesbezüglich zu sein. Daher auch hier die kurze Zusammenfassung aus der Broschüre der EKD zu Antisemitismus aus dem Jahr 2017 zur Frage der Rache:

”Der fälschlicherweise als »Rachegebot« bezeichnete biblische Satz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (2. Mose 21,23-24) regelt in Wahrheit Schadensersatzleistungen, wie sie auch die moderne
Rechtsprechung kennt. Der Auslegungstradition zufolge soll damit ein Ausufern der Gewalt verhindert werden. Eine Aufforderung zur Vergeltung für erlittenes Unrecht kennt weder das Alte noch das Neue Testament. Es ist daher nicht sachgemäß, wenn in der Berichterstattung der Medien über militärische Aktionen im Nahen Osten immer wieder auf den genannten Bibeltext verwiesen wird”

Antisemitismus. Vorurteile, Ausgrenzungen und Projektionen und was wir dagegen tun können, EKD 2017

Empfehlungen zur Sprachkenntnis

Der eingangs erwähnte und wohl versierteste Forscher und Kämpfer für den korrekten Sprachgebrauch Andreas Mertin, schrieb im Theomag 113 den ArtikelDialektik der Aufklärung. Neue Nachrichten zum Gebrauch des Wortes „alttestamentarisch“. Hier vor allem auch recht neue Forschungsergebnisse. Im Artikel geht er auch kritisch mit der eigenen Forschungsarbeit und der anderer um. Das übrigens ist Wissenschaft: seine eigenen Fehler erkennen und aufzeigen.

Das Bild der Rache im sog. Alten bzw. Ersten Testament ist ein christliches Bild, wie auch oben genannter Podcast der Evangelischen Akademie Berlin mit dem gesamten Programm „Bildstörungen“ immer wieder herausarbeitet. An dieser Stelle auch die Empfehlung der Broschüre „Störung hat Vorrang! Christliche Antisemitismuskritik als religionspädagogische Praxis (pdf)„. Es obliegt Menschen mit christlichem Hintergrund, sich hier zu hinterfrage. Zu Empfehlen ganz allgemein z.B. auch der Beitrag: „Vom „Alten“ zum „Ersten“ Testament“ von Georg Magirius im Deutschlandfunk Kultur vom 1. März 2020

Neben dem Standardwerk „LTI. Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer, das ersthaft von allen Menschen nicht nur gelesen, sondern auch verinnerlicht werden sollte, die sich mit Sprache befassen, wäre das bereits erwähnte kurze Buch „Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht“ von Matthias Heine und wenn man schon mal im Dudenverlag stöbert, auf das wieder erhältliche „Antisemitismus in der Sprache. Warum es auf die Wortwahl ankommt“ von Ronen Steinke verwiesen – damit hier zumindest eine jüdische Stimme vorkommt.

Ronen Steinke selbst ist Jurist und auch die Legal Tribune Online befasste sich mit dem Thema „Auge um Auge“ und das schon vor elf Jahren. Martin Rath hat in „Alttestamentarisch war auch zivil“ ein wenig übersetzt, was für viele offenbar zu schwer zu lesen ist: Nämlich wie „Auge um Auge“ eigentlich gemeint ist.

Thomas Wessel befasst sich in den Ruhrbaronen im November 2021 mit dem Wort bei Jürgen Habermas:


Es gibt Wörter, die stehen stumm im Text und blinken vor sich hin wie Alarmlämpchen es tun. „Alttestamentarisch“ ist so ein Wort. Macht schwer auf Bedeutung, als wollte jemand beweisen, wie studiert er sei, während das Wort selber  –  der wissenschaftliche Begriff ist „alttestamentlich“  –  etwas anderes erzählt, es ist antisemitisch aufgeladen wie eine Giftampulle.

„Alttestamentarisch“? Jürgen Habermas und der antisemitische Diskurs, Thomas Wessel, 1. November 2021

In der TAZ schrieb schon 2007 Ulrich Gutmeier ein paar Gedanken zum Gebrauch des Wortes in Zusammenhang mit einer Ausstellung im Auswärtigen Amt und „Alttestamentarisch ist nur der böse Blick„. Liest man den Text heute, sieht man, wie wenig sich geändert hat.

Ausgerechnet im Deutschlandfunk ist der Beitrag von Christian Röther „Alttestamentlich contra alttestamentarisch“ vom 14. Mai 2018 zu finden. Hier sagt z.B. Hermann Spieckermann, inzwischen emeritierter Professor für „Altes Testament“ an der Uni Göttingen:


„Wenn ich einen negativen Beiklang haben will, und sagen will: Das ist ganz archaisch, ganz alt und überholt und damit ist was ganz Negatives verbunden – dann verwende ich das Wort ‚alttestamentarisch‘.“

Hermann Spiekermann, Deutschlandfunk 14. Mai 2018

Fazit

Es ist nicht schwer, sensibel mit Sprache umzugehen. In einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden mit massiven Anfeindungen leben müssen, in der sie sich mehr und mehr zurückziehen, sich und ihre Traditionen geradezu verstecken müssen, obliegt es einer demokratischen Gesellschaft und damit ihrer dem Grundgesetz verpflichteten Medien, ein Minimum an Sprach- und Geschichtssensibilität walten zu lassen. Die Bilder eines rächenden Gottes und den Folgebildern sind klar antisemitisch einzuordnen. Das zu übersehen, nicht zu korrigieren sondern auch in einer der wichtigsten Sendungen des Landes uneingeordnet auszustrahlen zeugt von Mutwilligkeit und nimmt der eigentlichen Intention des Berichts alle Glaubwürdigkeit.

Ehe sich hier jemand aufplustert: Dies ist bei weitem keine Rechtfertigung des Umgangs mit der palästinensischen, libanesischen oder iranischen Zivilbevölkerung, aber auch keine Negierung des Umgangs mit israelischer Zivilbevölkerung und jüdischen Menschen weltweit – egal, ob und welche Meinung sie zu den Ereignissen haben. Es ist ein Appel für Sprachgenauigkeit und Verantwortung gerade und besonders im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der, wie ich hoffentlich belegen konnte, gleichzeitig sehr viel zum Thema veröffentlichte – und das hier ist nur eine kleine Auswahl. Es ist mir daher unerklärlich, warum das im der Weltspiegelredaktion niemandem aufstieß – es sei den, es wurde bewusst gesetzt. In dem Fall: Danke für nichts.

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